Hamburg. Der einzig wahre Domingo, fast zum Anfassen nah: Das nahezu vollbesetzte „Konzert des Jahres“ war ein ganz besonderes Event.

Niemand von uns weiß, wie es ist, sich jahrzehntelang und weltweit als Tenor-Marke „PLÁCIDO DOMINGO“ durchs Leben gesungen zu haben, umjubelt, mit Ruhm und Verehrung überschüttet. Jeder Ton war ein Treffer, keine Rolle zu schwer oder zu groß, nichts hielt diesen Ausnahmekünstler auf, und alles wurde vergoldet, vieles davon massiv.

Dann: älter geworden, zum Notwehr-Bariton geworden, immer wieder viele Schlagzeilen über – sehr vorsichtig ausgedrückt – unangemessenes Verhalten gegenüber vielen jüngeren Frauen. Die Legenden-Schutzschicht bekam dadurch sichtbar tiefe, unkittbare Risse.

Doch die Show soll natürlich weitergehen, da sie für ihn nun mal das einzige Leben ist, das er kennt und will. Als er im September in der Arena von Verona eine Gala dirigierte, blieben Mitglieder des Orchesters demonstrativ sitzen, weil sie für das, was er da abgeliefert hatte, keinen Applaus mit ihm bekommen wollten.

Plácido Domingo in der Elbphilharmonie: nobel ergrauter Latin Lover im Frack

Seine Fans klatschen, lieben, ignorieren das alles dennoch und deswegen oft weg, weil es einen wie ihn nur einmal gab und ja immer noch gibt, nach all den vielen Jahren und Erfolgen. Deswegen auch die vielen ganz und gar nicht verstohlen gemachten Smartphone-Knipsereien im Parkett.

2019 war der inzwischen 81-Jährige zuletzt von seinen Bewunderinnen und Bewunderern in der Elbphilharmonie zu bestaunen gewesen. Und so, wie sich der gerade mal zwei Jahre jüngere Mick Jagger nach wie vor für Live-Shows wahrscheinlich in seine hautengen Hosen einnähen lässt, kommt auch Domingo nicht mehr raus aus seiner ewigen Rolle, der des nobel ergrauten Latin Lovers im Frack.

Ein Zusatz-Sänger für die kollektive Sehnsucht nach einem Kerl von Tenor

Die Zutaten für das nahezu voll besetzte „Konzert des Jahres“ (mit Kartenpreisen bis zu 467 Euro eher kein Schnäppchen) waren also nahezu unverändert: ein günstig dazugebuchtes Orchester für x-beliebige Ouvertüren, diesmal die Hamburger Camerata, nicht immer sattelfest beim Begleiten.

Dazu Domingos untertänigster persönlicher Dirigent Eugene Kohn, bei dessen Runden über die Bühne man unwillkürlich an Klassiker aus der Muppet Show denken musste, auch, weil er Domingo wie früher „Butler Martin“ in den Kulenkampff-Shows seinen Herrn und Meister devot an der Bühnentür abholte. Eine adrette Sopranistin, diesmal die angenehm leuchtende Micaëla Oeste, mit zwei farblich kontrastierenden Abendroben für die Domingo-Gesangspausen, für die Duette und die kleine Walzer-Runde mit ihm zwischendurch.

Aber auch, und das war neu, der etwa halb so alte Tenor Rame Lahaj als interessant inszenierte Projektionsfläche für die kollektive Sehnsucht nach einem Kerl von Tenor. Lahaj sang in seinem Heiko-Maas-Gedächtnis-Anzug fast so, wie Domingo es mittlerweile nicht nicht mehr kann; Lahaj übernahm – unter anderem im „Perlenfischer“-Duett – die Höhen, unter denen Domingos Stimme sich mit großväterlicher Großzügigkeit als gönnender Nebendarsteller einfügte und unterordnete. Zwei Tenöre, na ja: fast, für den stolzen Preis von einem.

Domingo, fast zum Anfassen nah

Bis zur Pause blieb es streng klassisch, mit Arien von hier, da und dort, allerdings keine Riesen-Hits, vielleicht auch, um allzu offensichtlichen Vergleichen zu entkommen – eine Portion aus Ambroise Thomas’ „Hamlet“, etwas Schmachtendes aus Giordanos „Andrea Chénier“, ein Duett aus dem 2. „Traviata“-Akt. Gerade so viel Anstrengung wie möglich, immer so viel Einsatz wie nötig, unterstrichen durch universalverwendbare Gesten und Würzungen: leichtes Schluchzen, melodramatisches Darben, sich kurz ungläubig an die Stirn greifen, alles frei miteinander kombinierbar. Hauptsache der einzig wahre Domingo, fast zum Anfassen nah.

Grundsätzlich dürfte man sich auch fragen, was von einem Konzert in ausgerechnet diesem Saal zu halten ist, bei dem die Gesangsstimmen über Mikrofone verstärkt und verfremdet wurden. In diesem Saal, der wie kaum ein anderer jedes Flüstern transportieren kann, wäre das nun wirklich nicht notwendig gewesen.

Domingo, Oeste und Lahaj hatten eine Auslauffläche in der Orchestermitte freigeräumt bekommen, um in alle Rang-Richtungen zu beschallen und besichtigt werden zu können. Szenenapplaus für das Fachpersonal am Mischpult gab es allerdings nicht. Den teilten die Stars des Abends unter sich auf, als hätten ausschließlich sie diese Lautstärke-Leistung erbracht.

Domingo in der Elbphilharmonie: Zugabenteil begann bereits nach der Pause

Der Zugabenteil begann bereits nach der Pause, es ging nach etwas Operette und Musical zum Warmwerden ins sonnige Land, wo die Zitronen blühen und die Männer noch Männer sind und Herzen von stolzen Frauen auch mal brechen können, hossa, was ist denn schon dabei.

In „On The Street Where You Live“ aus „My Fair Lady“ waren das Orchester und der Solist nicht immer im gleichen Viertel unterwegs, in „Tonight“ aus der „West Side Story“ hatten es die Tontechnik und Kohn es so gerade eben geschafft, Domingos hohen Schlusston gnädig zu vertuschen. Diese Risiken waren bewältigt, der Rest spulte sich temperamentvoll auftrumpfend ab.

Der heftig erklatschte Zugabenblock hatte beeindruckende sechs Abschnitte, je später der Abend, desto schmissiger die Bonus-Runden. Léhars „Lippen schweigen“, erst schön mit Mitsummen, aus der „Lustigen Witwe“ durfte natürlich nicht fehlen, ebenso wenig wie „Besame mucho“ in einer sonderbaren Ü-60-Disco-Version (wie vor drei Jahren erneut fast von Kohn geschmissen), bevor „Granada“, die unbedingt dazugehörende Nationalhymne aller Heldentenöre mit spanischen Wurzeln, ins selig jubelnde Rund geschmettert wurde, denn so jung kommen wir alle ja nicht wieder zusammen.