Hamburg. Der umstrittene Weltstar singt in der Elbphilharmonie und der Staatsoper. Zwei prominente Stimmen zum Fall Domingo.
Am Dienstag singt der Klassik-Weltstar Plácido Domingo in der Elbphilharmonie, im März sind Auftritte in der Hamburgischen Staatsoper geplant. Seit vor einigen Monaten mehrere Frauen erstmals massive Vorwürfe wegen sexueller Belästigung veröffentlichten, wird über ihn und sein mutmaßliches Fehlverhalten diskutiert.
Und darüber, wie man strukturell auf solche Vorfälle reagiert. Wir haben den Hamburger Opern-Intendanten Georges Delnon und die Amerikanerin Laura Berman, Opern-Intendantin in Hannover, dazu befragt.
Wie ist Ihre Meinung zu den Vorwürfen, mit denen Plácido Domingo konfrontiert ist?
Laura Berman: In der Zeit, über die bei den Vorwürfen gesprochen wird, war das Operngeschäft noch viel stärker als heute von Männern dominiert. Ich bin in diesem System „groß geworden“. Hospitantinnen und Assistentinnen haben sich gegenseitig vor bestimmten Kollegen gewarnt – so dass sie vorbereitet waren. Manche von uns konnten diese Männer, die „übergriffig“ waren, besser abblitzen lassen als andere. Wenn man sich in einer Abhängigkeitsbeziehung befindet, ist dies unter Umständen kein leichter Schritt. Wenn solche Männer eine wichtige Position innehatten, machtvoll waren, war die Situation besonders beunruhigend. Als junge Frau habe ich mich in solchen Situationen oft sehr durcheinander gefühlt.
Dieses Verhalten von Männern wurde allgemein toleriert und ich bin sicher, dass ein Mann behaupten würde, von Annäherungsversuchen Abstand genommen zu haben, sobald eine Frau ihm ein Signal gegeben hätte. Dominanz und Macht sind keine Rechtfertigung für übergriffiges Verhalten, aber Maßstäbe von heute sind oft schwer an die Geschichte anzulegen und so wichtig die Aufarbeitung für die einzelnen Betroffenen ist, umso wichtiger erscheint mir der einsetzende Wandel, die Bewusstwerdung und das Mutmachen, Taten sofort öffentlich zu machen.
Georges Delnon: Wir nehmen das Thema sehr ernst, informieren uns proaktiv und verfolgen die Berichterstattung. Nicht nur wegen der bevorstehenden drei Vorstellungen „Simon Boccanegra“; schließlich verbindet unser Haus und Domingo sehr viel. Er war von 1967 bis 1975 Ensemblemitglied, hat seine Karriere hier begonnen. 1975 wurde ihm für seine künstlerischen Leistungen die Auszeichnung „Hamburgischer Kammersänger“ verliehen, 1988 wurde er zum Ehrenmitglied ernannt.
Zuletzt Domingo, davor Levine an der Met, Gatti in Amsterdam, Mauser in München, Kuhn bei den Festspielen in Erl – alles unterschiedlich gelagerte Einzelfälle, bei denen mächtige Männer ihre Machtposition missbrauchten oder missbraucht haben sollen? Oder Symptome eines Systems, in dem Karrieren auch auf diese Art und Weise gemacht oder beendet werden?
"Die Oper war immer ein Männerclub"
Berman: Inwiefern diese Art von Machtmissbrauch Einfluss auf Karrieren hatte, kann ich nicht beurteilen – obwohl ich manchmal selbst das Gefühl hatte, dass ich schlechtere Chancen hatte, weil ich nicht „mitgespielt“ habe. In künstlerischen Prozessen entsteht immer wieder besondere Nähe, die auf der einen Seite die Kunst beflügeln, auf der anderen Seite aber auch schnell distanzlos werden kann. Hier muss jeder Fall für sich gesehen und bewertet werden muss.
Auf der anderen Seite war die Oper immer ein Männerclub und ist es immer noch. Bis heute haben es Frauen schwer. Wir benötigen einen strukturellen Wandel, einen Wertewandel und einen Wandel im Selbstverständnis von Kommunikation und Macht. Wenn Hierarchien geebnet werden, wenn Teams gebildet werden, dann können Positionen schwerer missbraucht werden.
Delnon: Das Publikum macht Karrieren, am Publikum kommt niemand vorbei. Abgesehen davon ist Machtmissbrauch kein spezifisches Phänomen des Opern- oder Konzertbetriebs. In vielen gesellschaftlichen Bereichen erleben wir Machtmissbrauch verschiedenster Art. Damit adäquat umzugehen und Ursachen zu hinterfragen, ist oberste Pflicht.
Es gibt nicht nur die Vorwürfe, sondern auch demonstrative Rückendeckung für Domingo von Sängerinnen wie Anna Netrebko oder Sonya Yoncheva. Ihre Meinung dazu?
Berman: Jede Frau macht andere Erfahrungen im Laufe ihres Lebens und verbindet mit Menschen die eigene Geschichte. Daher rührt eine sehr unterschiedliche Wahrnehmung von Vorfällen. Es gibt Frauen, denen es leichter fällt, ihre benötigte Distanz aufrechtzuerhalten und es gibt Frauen, die berufliche Nachteile fürchten, wenn sie solche Avancen von einem Mann in einer Machtposition zurückweisen.
Delnon Das sind ihre persönlichen Vertrauensbekundungen. Man darf sie ruhig ernst nehmen. Eine Meinung dazu maße ich mir nicht an.
Fall Domingo: Kein Handlungsbedarf?
Wie wird diese Thematik in den Chefetagen von Opernhäusern diskutiert?
Berman: Die diskutierte Frage geht darüber hinaus: Wie gehen wir miteinander um? Welches Klima wollen und können wir schaffen, in dem unsere Mitarbeiter*innen sicher und vertrauensvoll miteinander arbeiten können? Es ist Aufgabe der Chefetage dieses Klima zu prägen und die Strukturen so zu ändern, dass ein angstfreies Arbeiten möglich ist. Doch darüber hinaus muss jede*r Einzelne ihren*seinen Beitrag dazu leisten und Missstände unmittelbar kommunizieren. Noch bevor ich mit meinem Team in Hannover angefangen habe, haben wir uns selbst einen Verhaltenskodex gegeben, den wir seit dem Start immer wieder kommunizieren.
Delnon: Die Intendanten der großen Häuser haben untereinander Kontakt. Ich weiß, dass die Thematik zuletzt in der deutschsprachigen Opernkonferenz diskutiert wurde. Zur Zusammenarbeit mit Domingo sieht man an den anderen europäischen Häusern, wie auch bei uns, zur Zeit keinen Handlungsbedarf.
In den USA, wo diese Vorwürfe an Domingo im August zuerst veröffentlicht wurden, kam es an mehreren Opernhäusern zum Aus bei der Zusammenarbeit. In Europa ist das Stimmungsbild anders, die Salzburger Festspiele beispielsweise haben sich demonstrativ für Domingo ausgesprochen, 2020 ist er wieder dabei. Wie erklären Sie sich diese unterschiedliche Beurteilung?
Berman: Da ich seit 1983 in Europa lebe und kaum in den USA gearbeitet habe, kann ich das nicht ganz beurteilen. Sicherlich hat das mit der öffentlichen Meinung zu tun. Die Atmosphäre in den USA ist labiler – aber nicht unbedingt besser. Jedes Haus muss selbst entscheiden, wie es in solchen Situationen agiert.
Delnon: Es sind sicherlich unterschiedliche Sichtweisen und andere rechtliche Rahmenbedingungen. Es sind sicher auch kulturelle und strukturelle Unterschiede. Bei uns gilt die Unschuldsvermutung solange, bis eindeutige Beweise das Gegenteil manifestieren.
"Es gilt die Unschuldsvermutung"
Wie geht Ihr Haus mit der #metoo-Thematik um? Gibt es Anlaufstellen für Personen, die sich belästigt fühlen? Gibt es Verhaltensregeln? Gab es Vorfälle, bei denen Sie eingegriffen haben?
Berman: Vor einigen Jahren habe ich einen Workshop zum Thema sexuelle Belästigung mit Kolleg*innen in der Theaterleitung absolviert. Es war wichtig zu lernen, wie unterschiedlich die Wahrnehmung ist, wann Verhalten als „übergriffig“ beurteilt wird. Wir planen gerade auch hier in Hannover Workshops zu diesen Themen – denn eine Sensibilisierung für Verhaltensmuster und die Auswirkungen ist wichtiger Schritt. Es gibt an den Niedersächsischen Staatstheatern hierfür bereits seit 2008 eine Betriebsvereinbarung über partnerschaftliches Verhalten am Arbeitsplatz. Und es gibt selbstverständlich Anlaufstellen bei Diskriminierung, Mobbing oder sexueller Belästigung. Bei jeder Betriebsversammlung thematisieren wir, dass sich die Geschäftsführung sofort dieser Fälle annimmt, wenn der*die Betroffene das möchte.
Delnon: Eine respektvolle Arbeitsatmosphäre ist essentiell – und dies gilt für alle Mitglieder der Hamburgischen Staatsoper auf und hinter der Bühne. Unser Haus hat zwei Gleichstellungsbeauftragte, die als Anlaufstelle für die Mitarbeitenden da sind und ins Vertrauen gezogen werden können.
"Ein Opfer muss sofort geschützt werden"
Wie können Opernhäuser, Festspiele oder Orchester zukünftig verhindern, dass derartige Vorwürfe womöglich eine Karriere längst beendet haben, bevor es eine juristische Klärung gibt?
Berman: Bis zu einem gerichtlichen Urteil gilt per se die Unschuldsvermutung. Es ist allerdings ein schmaler Grat, auf dem man sich bewegt – denn ein Opfer muss sofort geschützt werden. Wichtig ist hier Vertraulichkeit. Vorwürfe sollten nicht an die Öffentlichkeit gelangen, bevor Sicherheit über den Vorgang herrscht. Mir ist bewusst, dass dies schwer umzusetzen ist, doch das sollte uns nicht davon abhalten, immer wieder zu versuchen, diesen schmalen Grat zu gehen. Sicher ist hier auch die Justiz gefragt, wenn es um Verfahrensdauer geht.
Delnon: Als Opernhaus oder als Arbeitgeber müssen wir adäquat und schnell reagieren, aber auch Vorverurteilungen vermeiden helfen. Aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit kann das bei uns nämlich schnell auch eine Frage werden, wie die Gesellschaft bzw. die Öffentlichkeit insgesamt mit rechtlich ungeklärten Fällen umgeht.
Würde es helfen, wenn mehr Frauen an Opernhäusern in Chefpositionen kommen?
Berman Ich bin der festen Überzeugung, dass Diversität vonnöten ist. Nicht nur brauchen wir einen wesentlich höheren Frauenanteil auf Chefpositionen, sondern im gesamten ein Abbild unserer Gesellschaft in den Opernhäusern. Dann werden sich die Diskurse ändern, die Arbeitsweisen und auch der Umgang miteinander und mit Minderheiten. Manche Kolleg*innen machen sich weiß, dass ihr Haus bereits divers ist – weil vielleicht der Chor oder das Sängerensemble gemischter sind. Diese Diversität bildet jedoch nicht die Gesellschaft ab. Wir nehmen an dem Programm „360 Grad“ der Bundeskulturstiftung teil und überlegen, welche Maßnahmen zu einer diverseren Belegschaft führen könnten. Es ist tatsächlich gar nicht so leicht und wir sind froh, dass wir eine „Agentin für Diversität“ in unserem Staatstheater-Team haben.
Frauen auf die Chefsessel?
Delnon Es ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dass Frauen vermehrt Führungspositionen bekleiden und diese Aufgaben wahrnehmen werden. Das ist eine Entwicklung, die im Gange ist und die Veränderungen mit sich bringen wird. Die Beurteilung des dann Erreichten und des Wandels, der sich damit vollzieht, ist dann doch immer eine Aufgabe der konkreten Gegenwart. Ich bin ein optimistischer Mensch und denke, in diesen Veränderungen liegt viel Potential für Verbesserungen.
Auch gegen den Dirigenten Daniel Barenboim wurden – gänzlich andere – Vorwürfe laut, er soll immer wieder tyrannisch mit Orchestermitgliedern und –Mitarbeitern umgegangen sein. Ist der Maestro-Kult, diese gottgleiche Verehrung von Alleinherrschern mit Taktstock noch zeitgemäß? Und was wird in Ihrem Haus konkret dagegen getan, wenn sich ein Dirigent – es sind in aller Regel Männer - daneben benimmt?
Berman: Gottgleiche Verehrung sollte niemand erfahren, Überhöhung ist immer gefährlich. Mit Macht kommt eine große Verantwortung – der nicht jede*r und der man nie vollständig gerecht werden kann. Darüber hinaus ist Kunst emotional und Menschen, die sich künstlerisch komplett verausgaben gehen auch sonst oftmals ins Extrem. Interessant ist hier die Frage, wie man den kreativen Schaffensdrang lenken und leiten kann. Wir benötigen große Achtung voreinander – in alle Richtungen.
Delnon: So etwas war noch nie „zeitgemäß“, es wurde früher vielleicht mehr geduldet als heute. Ich habe in meiner langen beruflichen Laufbahn als Intendant solche krassen Verhaltensweisen eines Dirigenten noch nie erleben müssen. Anderseits gilt es zu bedenken, dass „Emotionalität“ ein wesentlicher Inhalt unserer Vorstellungen, unseres Handelns und Wirkens ist. Da kommt es zu emotionalen Momenten auch im Miteinander, bei denen aber Grenzen einzuhalten und gegenseitiger Respekt oberstes Gebot sind.
Placido Domingo engagieren? Das Team fragen!
Würden Sie Domingo für einen Auftritt an Ihrem Haus engagieren?
Berman: Tatsächlich müsste ich das zunächst mit meinem Team besprechen. Ich kenne ihn nicht und habe noch nie mit ihm gearbeitet.
Wird Domingo, wie geplant, im März in den „Simon Boccanegra“-Vorstellungen an der Hamburger Staatsoper singen?
Delnon: Davon gehe ich aus.
Haben Sie mit ihm oder seinem Management seit der Veröffentlichung der ersten Vorwürfe darüber gesprochen, ob er weiterhin auftreten wolle oder könne? Und wenn ja, wie war die Reaktion? Wird es weitere Auftritte von ihm an der Hamburger Oper geben? Oder wird es sie jetzt und wegen der laufenden Debatte nicht mehr geben?
Delnon: Im Moment ist nichts geplant; es spricht aber aus meiner Sicht auch nichts dagegen.
1988 wurde Domingo, dessen Karriere hier begann, zum Ehrenmitglied der Staatsoper ernannt. Welchen Einfluss haben die aktuellen Diskussionen darauf?
Delnon: Domingo ist Ehrenmitglied der Staatsoper aufgrund seiner Leistungen und künstlerischen Erfolge. Solange aktuell diskutiert wird, wären voreilige Schlüsse aus meiner Sicht deplatziert. Auch sind mir hier aus Hamburg aus der Zeit seines Wirkens bei uns keinerlei Vorfälle oder Vorwürfe gegen ihn bekannt. Da sind wir gut beraten, wenn wir nicht vorschnell reagieren, sondern uns besonnen ein Bild machen, wenn die Dinge auch juristisch aufgearbeitet sind.
Georges Delnon und Laura Berman haben die Fragen jeweils schriftlich beantwortet.