Hamburg. Auf den roten Teppich kamen Fatih Akin und die ganze Hamburger Filmszene. Gefeiert wurden die neue Festivalchefin und die Kraft des Kinos.
Kühe. Knutschen. Und irgendwann: Käse. Das Freizeitangebot im französischen Département Jura ist für die Heranwachsenden übersichtlich, meist ist reichlich Alkohol im Spiel. Um Spaß zu haben, anfangs. Auch, um die Tristesse der Provinz wegzusaufen, wie es die Erwachsenen nicht anders vorleben, und um den Schmerz wegzutanzen.
„Könige des Sommers“ heißt der Debütfilm von Louise Courvoisier, der schon bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes (unter dem im Englischen viel besseren Titel „Holy Cow“) überzeugte und nun also Malika Rabahallahs ausgesprochen gelungener Auftakt in das 32. Filmfest Hamburg und in ihr erstes Festivalprogramm als Direktorin ist. Dass Rabahallah für ihr eigenes Debüt einen französischen Film aussuchen würde, war nahe liegend: Die Deutschfranzösin lebt zwar schon lange in Hamburg, ist aber in einem Pariser Vorort aufgewachsen und hat in Paris studiert. Noch immer spricht sie mit französischem Tempo und Akzent. Und strahlt dabei eine unbändige Lust am Kino und eine Herzlichkeit aus, die umstandslos anstecken. Wovon sich schon auf dem roten Teppich vor dem Cinemaxx jede und jeder nach wenigen Sekunden überzeugen konnte.
Kein schlichtes Feel-Good-Movie ist „Könige des Sommers“, sondern eine trotz der idyllischen Landschaft zunächst durchaus bittere Coming-of-Age-Geschichte. Deren Figuren – alle mit Laiendarstellern aus der Region besetzt, aus der auch die junge Regisseurin stammt – allerdings beherzt und kreativ gegen die eigene Aussichtslosigkeit ankämpfen. Wie es sich für eine Heldengeschichte im Kino gehört: mit Leidenschaft, Freundschaft und Forschheit. Es bleibt ihnen auch gar nichts anderes übrig – von Erwachsenen, die im Film nur als Randfiguren auftauchen, ist keine Unterstützung zu erwarten.
Nach dem plötzlichen Tod seines Vater muss Totone (Clément Faveau), der eben noch vergleichsweise unbekümmert durch den Sommer stolperte, für sich und seine kleine Schwester sorgen. Und das heißt vor allem: Geld auftreiben. Der Hilfsjob in einer Käserei bringt ihn auf die Idee, selbst Käse herzustellen, den allerbesten, einen preiswürdigen und damit lukrativen Comté.
Filmfest Hamburg im Cinemaxx: Zum Start Tragikomödie voller Charme, Witz und Sinnlichkeit
Louise Courvoisier gelingt mit ihrem fantastisch gecasteten, eigenwilligen Laienensemble eine ungeschliffene Tragikomödie voller Charme, Witz und handfester Sinnlichkeit. Sex, der nach Kuhstall riecht, die (tatsächliche!) Geburt eines Kalbes und der schweißtreibende Versuch, einen Käselaib zustande zu bringen. Sie beschönigt nicht, aber sie zeigt die Menschen mit liebevollem, nicht bloßstellendem Blick. Echte Menschen, denen das Leben nichts schenkt. Dennoch entlässt dieser Film ... nun, nicht in eine naive Zuversicht, aber nicht zuletzt durch das unerwartete Schlussbild doch mit einem unbedingten Lächeln.
„Filmfest Hamburg ist und bleibt ein politisches Filmfestival“, hatte Kultursenator Carsten Brosda (SPD) in seiner bejubelten Eröffnungsrede betont. Ein Filmfest, „das einlädt, filmisch um die Welt zu reisen, in entlegene Winkel, Kulturen und Kontexte einzutauchen und neue Perspektiven einzunehmen“. Wie nötig das ist, fasste er wie folgt zusammen: „Vier Wochen seit den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, fünf Tage seit denen in Brandenburg, noch sechs Wochen bis zur Wahl in den USA, nahezu ein Jahr seit dem Überfall der Hamas auf Israel, fast 1000 Tage seit Beginn des russischen Angriffskrieges.“ Für die Demokratie und den Frieden müsse man sich „jeden Tag aufs Neue entscheiden“.
Filmfest-Eröffnung: „Gute Gegengifte gegen Resignation und gegen die Wut auf die Verhältnisse“
Ist „Könige des Sommers“ ein politischer Film? Nicht vordergründig, aber doch in dem Sinne, dass der Film den Blick auf Lebensentwürfe lenkt, die mit denen urbaner Großstadtcineasten wenig gemeinsam haben dürften. Und, noch wichtiger vielleicht, indem er den Glauben daran stärkt, „dass es besser, ja vielleicht sogar gut werden kann“, wie es Brosda in seiner Rede formulierte, noch bevor im Cinemaxx die ersten Kühe auf der Leinwand erschienen.
Genau das ist ja die große Chance des Kinos (und der Literatur und des Theaters): Es ist eine Form des Dialogs, ein Aufzeigen von Möglichkeiten und Lebenswelten. „Lust auf Zukunft“ nennt Kultursenator Brosda – der die Berliner Kultur- und Filmförderpolitik nebenbei sichtlich genervt als „Jugend forscht auf der Suche nach der richtigen Politik“ abwatschte – diesen Glauben, der im Film auch den unermüdlichen Totone und seine Freunde treibt: „Gute Gegengifte gegen Resignation und gegen die Wut auf die Verhältnisse.“ Und Malika Rabahallah, die keine eigene Rede hielt, sondern sich an einer Bühnen-Bar von der Moderatorin Thelma Buabeng interviewen ließ, ergänzte: „Wir teilen Emotionen! Wir müssen lernen, Empathie füreinander zu haben.“
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Wie unmissverständlich das Filmemachen und das Streben nach Demokratie zusammenhängen, zeigte die Anwesenheit des iranischen Regisseurs Mohammad Rasoulof, der erst vor wenigen Monaten vor dem Regime aus Teheran nach Europa fliehen konnte und dessen neuer Film ebenfalls auf dem Filmfest Hamburg gezeigt wird. Und wie konkret Kino auch im ganz Kleinen lebensverändernd wirken kann, daran erinnerte der Auftritt des Hauptdarstellers Clément Faveau: Er hatte, um bei der Deutschlandpremiere seines Films in Hamburg dabei zu sein, das erste Mal in seinem Leben ein Flugzeug bestiegen.
124 Langfilme aus 55 Produktionsländern zeigt das Filmfest Hamburg nun bis zum 5. Oktober, zu sehen sind sie vor allem in den Festivalkinos Cinemaxx Dammtor, Metropolis, Abaton, Passage und Studio. Am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, ist das gesamte kuratierte Programm für alle Zuschauerinnen und Zuschauer kostenlos – eine Premiere für das Filmfest Hamburg, das Malika Rabahallah als „Symbol für Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit, Inklusion und Empowerment“ verstanden wissen will. „Könige des Sommers“ kommt, hübsch antizyklisch zum Titel, dann Anfang Januar regulär in die deutschen Kinos.