Hamburg. Malika Rabahallah hat die Leitung des wichtigsten Hamburger Kinofestivals übernommen. Sie macht ein Angebot an die gesamte Stadt.
Malika Rabahallah spricht rasant. Immer mit charmantem französischen Akzent, mit ansteckender Begeisterung für die Menschen, über die sie spricht, die Filme, die sie gesehen und mit entwickelt hat, die Ideen, die ihr kommen. Und sie nimmt die Dinge mit geradezu natürlicher Selbstverständlichkeit in die Hand. Der Fotograf kommt ein paar Minuten zu früh? „Ah, bon“, sie auch, da kann man doch schon mal loslegen. Das Café, in dem das erste Abendblatt-Gespräch stattfinden soll, ist voll? „Ah, bon“, schon ist das Telefon am Ohr und ein freier Tisch ein paar Straßen weiter organisiert.
Schnell entsteht eine Ahnung, dass diese Frau auch mit komplizierteren Planungsdetails keine größeren Schwierigkeiten bekommen dürfte. Am 26. September wird die charismatische Deutschfranzösin Malika Rabahallah (53), die in Hamburg bislang die Förderabteilung der MOIN Filmförderung geleitet hat und auch als Produzentin, Autorin und Regisseurin seit Jahrzehnten in der Filmszene international vernetzt ist, ihr erstes Filmfest Hamburg eröffnen – als Nachfolgerin des langjährigen Festivaldirektors Albert Wiederspiel. Zum Jahresbeginn hat sie, die mit einem Deutschen verheiratet ist und seit 2009 in Ottensen lebt, die Position offiziell übernommen. Bis zur Programmvorstellung bleibt nur „knapp eine Schwangerschaft“ lang Zeit, aber es ist viel Lust da, viel Tatkraft, Kenntnis, Souveränität, Schwung und vor allem: eine große, sofort spürbare Neugierde.
Einer Ihrer Vorgänger, der ehemalige Filmfest-Chef Joseph Wutz, hat einmal im Abendblatt-Interview gestanden, er sitze gar nicht so oft im Kino. Wir fanden das damals recht ungewöhnlich. Wie ist das bei Ihnen?
Ich sitze sehr oft im Kino. Ich saß auch schon im Kino, bevor ich zur Filmförderung gekommen bin. Ich liebe Kino! Sicherlich hat es etwas damit zu tun, dass ich Französin bin. Wir gehen in Frankreich viel mehr ins Kino, schon in der Schule! Man unterhält sich über Filme. Es hat einen ganz anderen Stellenwert.
Kino Hamburg: Neue Festivalchefin will die ganze Filmwelt in die Stadt holen
Gehen Sie gern allein ins Kino?
Sehr gern und sehr oft! Wenn man in Frankreich Film studiert, bekommt man eine Karte, mit der man in alle Programmkinos von Paris gehen kann. Und du kannst alle Filme sehen, alle! Auch alte Filme, was du willst. Auch aus Algerien, aus Marokko, aus Pakistan, aus Lateinamerika. Selbst wenn man in einer fremden Stadt allein im Kino ist, so ist man nie wirklich allein. Man ist mit den Menschen auf der Leinwand verbunden, und es gibt immer zwei oder drei andere Leute, die im Saal gleichzeitig mit dir vibrieren. Paris ist eine Traumstadt für das Kino.
Und Hamburg ...?
In Hamburg haben wir großartige Kino-Orte. Sie sind alle ganz verschieden, liegen in unterschiedlichen Vierteln und ergänzen sich toll. Die Zeise-Kinos in Ottensen sind wie mein zweites Wohnzimmer. Das Filmfest hat einmal damit geworben, ein „Filmfest für alle“ zu sein, „überall in Hamburg“. Da habe ich gedacht: Das ist genau mein Ding! Das Filmfest muss ein Kinofest für alle sein. Für alle Hamburgerinnen und Hamburger und für alle, die uns gern besuchen.
Ende September startet das erste von Ihnen verantwortete Filmfest – was werden Sie genau wie Ihr Vorgänger Albert Wiederspiel machen und was wollen Sie verändern?
Das Jahr 2024 sehe ich als Übergangsjahr. Ich habe gerade einmal neun Monate zur Vorbereitung, bis wir das Programm im Herbst präsentieren. Ich will ein paar Schrauben drehen, neue Akzente setzen, aber nicht das ganze Filmfest auf den Kopf stellen. Ich bin ein Riesenfan vom Filmfest. Ich bin schon als Studentin hergekommen und habe Filmvorführungen moderiert. Wir haben das tollste Kuratorenteam und ein Riesenglück mit der Kulturbehörde. Hamburg unterstützt uns.
Was sind denn die Schrauben, an denen Sie als Erstes drehen wollen?
Im ersten Jahr würde ich gern noch mehr Fachpublikum nach Hamburg holen. Ich finde, ein Festival muss immer beides sein: ein Publikumsfest und ein Branchentreff. Wir möchten die nationale und internationale Filmbranche einladen, das Filmfest und unsere schöne Stadt zu besuchen und sich mit den Kreativen hier vor Ort auszutauschen. Viele kennen Hamburg bereits als Filmkulisse, aber Hamburg hat im Bereich Film so viel mehr zu bieten. Und ich möchte weitere Communities in Hamburg ansprechen. Mein Traum wäre es, dass alle wissen, dass das Filmfest stattfindet. Ende September? Ah, na klar, Filmfest!
Malika Rabahallah: „Im Kino machst du Fenster und Türen auf“
Werden mehr Kinos beteiligt sein, vielleicht auch mehr Stadtteile als bislang?
Vielleicht muss man einige Filme nicht nur in anderen Stadtteilen, sondern auch in anderen Räumen als in einem Kino zeigen? Das Filmfest hat 2019 zum Beispiel im Rahmen von „Filmfest ums Eck“ einen Film in den Zinnwerken in Wilhelmsburg gezeigt. Wenn man die Filmemachenden kennt und ein Film dort sinnvoll ist, dann ist das toll. Ich kann natürlich nicht die Regisseurin Justine Triet („Anatomie eines Falls“) anrufen und sagen: Justine, wir zeigen deinen Film woanders. Wobei – wenn es passt, würde ich auch sie fragen. Und wenn ich sage „für alle Hamburger“, dann meine ich wirklich: für alle. Wir sind ein Kulturfestival, das von der Stadt unterstützt wird. Wissen Sie, was es für eine afrikanische Mutter bedeutet, wenn sie einen Film aus dem Sudan sehen kann? Plötzlich sieht man die eigene Welt auf der großen Leinwand. Und dann sitzt im Kino vielleicht ein anderer Hamburger neben dieser Frau und schaut denselben Film und versteht Dinge, die er vorher nicht verstanden hat. Im Kino machst du Fenster und Türen auf. Du öffnest Welten.
Das Filmfest als Ort der Begegnung.
Unbedingt, darum geht es. Früher hatte man einen Verein, man ging in die Kirche oder in die Eckkneipe. Man hat dort alle möglichen Leute getroffen und diskutiert – wo macht man das heute? Wo trifft man Leute, die nicht aus deiner Welt sind? Das Filmfest könnte so ein Ort sein. Man sieht andere Menschen auf der Leinwand und beschäftigt sich mit ihren Themen. Und mein Ziel ist es, dass auch unser Publikum noch vielfältiger wird.
Tricia Tuttle, die mit der Berlinale ab 2025 ebenfalls ein Publikumsfestival kuratieren wird, hat bei Ihrer Vorstellung darauf hingewiesen, wie unterschiedlich das Publikum von Stadt zu Stadt ist. Was macht für Sie das Hamburger Publikum aus?
Es ist wahnsinnig treu. Es kommt seit Jahren zum Filmfest und ist mit uns gewachsen.
Das ist, wenn man an die Zukunft des Filmfests denkt, ja nicht nur positiv …
Unsere Zuschauerinnen und Zuschauer sind ein wahres Pfund. Akquirieren müssen wir die jüngeren. Das machen wir schon seit 2003 mit dem „MICHEL Kinder und Jugend Film Fest“, nämlich die jüngsten Besucherinnen und Besucher für das Kino zu begeistern. Da ziehen wir mit den Schulkinowochen und auch mit dem Nachwuchsfestival „abgedreht!“ an einem Strang. Wir müssen außerdem noch digitaler werden, wir brauchen eine App für einen noch schnelleren und leichteren Zugang. Auch für andere Zielgruppen. Filmschaffende mit Migrationsgeschichte haben auf Instagram und Facebook sehr oft geteilt, dass ich diesen Job bekommen habe. Für sie ist diese Ernennung wichtig. Ich kenne das aus der Filmförderung: Ein Gremium divers zu besetzen, ist ein Gamechanger. Ich sehe es auch als meine Aufgabe, dieser Gruppe mehr Teilhabe zu ermöglichen.
Filmfest-Chefin: „Kino war das Fenster für mich, ich bin mit dem Kino groß geworden“
Sie selbst sind in einem Pariser Vorort aufgewachsen, Ihre Eltern kamen aus Algerien. Können Sie sich an Ihre erste Kinobegegnung erinnern?
Es war ein Kinobesuch mit der Schule. Zu Hause habe ich vor allem Bücher gelesen. Wir hatten einen Bücherbus, der einmal die Woche kam, und man durfte nur drei Bücher auf einmal ausleihen. Ich habe immer versucht, ein dünnes Buch schnell durchzulesen, während der Bus da war, damit ich drei andere dann mitnehmen konnte. Storytelling hat mich immer fasziniert, das Geschichtenerzählen. Wenn wir bei den Großeltern in Algerien waren, bei den Berbern, haben sie uns Enkeln abends immer Geschichten erzählt. Die orale Geschichtenkultur war bei mir sehr präsent. Kino ist auch eine Form des Geschichtenerzählens – und es ist noch stärker, weil es auch Bilder mitliefert. Da schließen sich andere Welten auf. Kino war das Fenster für mich, ich bin mit dem Kino groß geworden – auch im Sinne von: im Kopf groß geworden. Dadurch ist meine Liebe zu Sprachen entstanden, mein Interesse für die Welt.
Gibt es einen Film, den Sie immer wieder ansehen würden?
E.T.! (lacht) Den habe ich jedenfalls schon sehr oft gesehen. Und „In the Mood for Love“ ist auf jeden Fall einer meiner Lieblingsfilme. Oder alles von Agnès Varda … Ich habe sie einmal getroffen, und sie hat mir so imponiert. Wenn man Agnès Varda trifft, ist sie ein „petit bout de femme“, wie man auf Französisch sagt, „ein kleines Stückchen Frau“. Aber was für eine Kraft diese Frau hat! Mir ist aufgefallen: Wenn die Leute eine Film-Hitliste machen, sind darauf meist viele Filme von Männern. Und wenn man mal nach Cannes guckt, sieht man: Die Männer dort, das ist doch ein Club unter sich. Dabei machen auch so viele Frauen großartige Filme.
Schauen Sie auch Blockbuster?
Ich gucke alles – auch Blockbuster. Ich bin außerdem ein Riesenfan von Animationsfilmen, in den nächsten Tagen gehe ich zu „Der Junge und der Reiher“. Und Dokus sind für mich ganz wichtig, auch weil sie immer weniger Platz im TV bekommen. Dafür muss man heute viel aktiver ins Kino gehen, derzeit läuft zum Beispiel eine Doku über Joan Baez. Das ist übrigens ebenfalls ein Teil der Aufgabe eines Filmfestivals: Wir bringen Filme zu den Hamburgerinnen und Hamburgern, die sie sonst nie sehen würden.
Filmfestchefin: „Ich streame Netflix-Serien, aber ich kann nicht zehn Staffeln gucken“
Wie halten Sie es mit Netflix?
Ich streame auch Netflix-Serien, aber ich bin niemand, der zehn Staffeln gucken kann. Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar. Zuletzt habe ich mit meiner Familie „The Young Sheldon“ gesehen, das war toll. Und Netflix spielt durchaus eine wichtige Rolle, die zeigen Serien und Filme in Originalsprache mit Untertiteln und lassen so das Publikum für ausländische Filme wachsen. Ein Beispiel ist „Parasite“ von 2019: Nicht umsonst hat „Parasite“ den Oscar für den besten Film des Jahres gewonnen. Die Welt war plötzlich bereit, einen fremdsprachigen, crazy Film aus einer ganz anderen Welt zu akzeptieren. „Roma“, ein Netflix-Film, wurde unter Albert Wiederspiel auf dem Filmfest Hamburg gezeigt – eine großartige Produktion.
Das Filmfest auch als Stream anzubieten, ähnlich wie in der Corona-Zeit, ist das eine Möglichkeit oder ein Tabu?
Ich habe mich viel damit beschäftigt. Das ist wie ein zweites Festival, das man auch noch organisieren müsste, und es ist mit Kosten verbunden. Manchmal wünsche ich mir, wir könnten so etwas ermöglichen. Nicht jeder ist schließlich in der Lage, ins Kino zu gehen. Was ist zum Beispiel mit Alleinerziehenden, die keinen Babysitter bezahlen können?
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Wenn wir über neue Publikumsgruppen sprechen: Man könnte meinen, junge Menschen mit dem bewegten Bild zu begeistern ist nicht so schwer. Sie sind ja die ganze Zeit mit und auf Bildschirmen unterwegs. Oder?
Ich bin Honorarprofessorin an der Hochschule für bildende Künste und habe dort auch meine Studentinnen und Studenten ermutigt, das Filmfest zu besuchen. Auch zur Hamburg Media School habe ich einen engen Draht. Doch leider heißt es oft, die Studentinnen und Studenten haben zu viel zu tun, sind zu sehr im Stress, um zum Filmfest zu kommen. Das kann doch nicht wahr sein: Wir holen die ganze Filmwelt nach Hamburg, die jungen Leute dort studieren Film, und sie kommen einfach nicht zu den Screenings und Gesprächen. Das ist wirklich schade.
Wie kann man das lösen?
Wir haben zum Beispiel ein Programm während des Filmfests, da bringen wir Studierende aus ganz Deutschland nach Hamburg. Wir gucken gemeinsam einen Film, und danach treffen die jungen Leute dessen Macherinnen und Macher. Unser Ziel ist es auch, den deutschen Filmstudierenden einen internationaleren Blick zu geben, damit auch deutsche Filme auf größeren Festivals landen. Sie müssen verstehen, wie das funktioniert in Cannes und Co. Wir müssen die Studierenden viel stärker einbeziehen – und ich meine damit nicht allein Filmstudierende.
Glamour war – anders als in Cannes, Venedig oder auch Berlin – nie der wichtigste Aspekt des Filmfest Hamburg. Ist das großartig oder eigentlich sehr schade?
Mads Mikkelsen zum Beispiel war im vergangenen Jahr bei keinem anderen deutschen Festival, aber nach Hamburg ist er gekommen. Im September und Oktober sind die Kalender sehr voll, das ist genau die Zeit, in der die Leute Filme drehen. Ich muss nicht jeden Star haben. Man bekommt auch nicht alle. Aber eine Portion Glamour gehört schon dazu.
Als Clint Eastwood 1995 zum Filmfest nach Hamburg kommen sollte, war die Bedingung, dass er dann hier auch einen Preis bekommt. Den gab es zu der Zeit aber gar nicht, und es wurde flugs der Douglas-Sirk-Preis erfunden. Haben Sie schon eine Idee, wem Sie diese höchste Filmfest-Auszeichnung in diesem Herbst geben wollen?
Nee, noch nicht. Im letzten Jahr war Sandra Hüller wirklich die beste Entscheidung. Sie ist das Nonplusultra. „Anatomie eines Falls“ war der Film 2023, die Regisseurin Justine Triet ist unglaublich gut.
Filmfest-Chefin: „Beim Filmfest sind wir wie Köche: Wir bieten ein Menü an“
Wie suchen Sie die Filme für das Festivalprogramm aus? Wie schnell wissen Sie, ob ein Film gut oder schlecht ist?
Die Filme müssen miteinander harmonieren. Das ist eigentlich wie beim Kochen. Ich liebe Kochen – und beim Filmfest sind wir wie Köche: Wir bieten ein Menü an mit vielen, vielen verschiedenen Sachen. Fast wie die Mezze aus der Levante-Küche: hier ein bisschen was aus Jordanien, da etwas aus Argentinien und noch ein wenig aus Korea und hier – aus der Sektion Voilà – etwas Französisches. Die Zuschauer gucken sich das Programm dann wie eine Speisekarte an und entscheiden: „Ja, davon nehme ich etwas und davon ein bisschen und davon und davon und davon.“ Und am Ende hat es dann hoffentlich gut geschmeckt.
Filmfest Hamburg,26.9.–5.10.2024, www.filmfesthamburg.de