Hamburg. Emanuel Meshvinski ist Bratschist und Komponist, Herz und Seele des Jewish Chamber Orchestras Hamburg. Was ihn immer wieder antreibt.

Es knattert und schnarrt ordentlich im Ensemblestudio der Musikhochschule. Dem Drive der Tonsalven von Trompete, Vibrafon, Snaredrum kann man sich kaum entziehen. Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg probt „Die Mondsüchtige“ von Erwin Schulhoff, eine Tanzgroteske. Die Musik klingt so lebensgierig und atemlos wie die Epoche ihrer Entstehung; Schulhoff schrieb das Stück 1925.

Mitten im Staccato-Getümmel sitzt Emanuel Meshvinski. Der 22-Jährige ist der einzige Bratschist im Ensemble, die Streicher sind einzeln besetzt. Hellwach schauen seine braunen Knopfaugen unter dem dichten Schopf hervor. Wenn sein Blick sich mit dem eines seiner Musikerkolleginnen und -kollegen trifft, lächelt er. Meshvinski ist in seinem Element.

Emanuel Meshvinski knüpft mit Jewish Chamber Orchestra Hamburg an sehr besondere Geschichte an

Ohne ihn wären sie alle nicht dort. Ohne ihn gäbe es das Konzert nicht, für das sie gerade proben. Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg bestreitet diesen Sonnabend im Rolf-Liebermann-Studio das Finale des Phoenix-Festivals. „Verfemte Kultur lebt!“ ist dessen Thema. Die Schulhoff-Groteske steht nicht nur um ihrer sprühenden Wirkung willen auf dem Programm. Der Komponist war Kommunist und Jude. 1942 verschleppten ihn die Nationalsozialisten aus Prag, wenige Wochen später starb er in einem Lager. Sein Werk geriet in Vergessenheit; erst sehr viel später wurde er in seiner Bedeutung wiederentdeckt.

Der Abend nimmt sich aber auch anderer im „Dritten Reich“ bedrohter Gruppierungen an, etwa der Schicksale queerer Menschen. Die jüdische Burlesque-Tänzerin Lolita Va Voom performt zu Step, Tango und Jazz. Und dann hebt das Jewish Chamber Orchestra noch ein neues Werk aus der Taufe. „Die Liebe!“ heißt es, wie auch der zugrunde liegende Text der von den Nationalsozialisten ermordeten Transperson Liddy Bacroff. Geschrieben hat es Emanuel Meshvinski.

Bratschist Emanuel Meshvinski liebt es, mittendrin zu sein

In der Musikhochschule ist mittlerweile Mittagspause. Der kleine Saal leert sich, ein paar Mitspieler haben noch Fragen an Meshvinski, er bucht schnell per Handy einen Raum zum Ausruhen für die Dirigentin. Er selbst scheint keine Pause zu brauchen. Im Gespräch an einem der Cafétische im Foyer ist er genauso präsent wie eben noch bei der Probe, geht auf jede Nuance ein. Zwischendurch ruft er jemandem „Wir reden später“ zu, reckt beide Daumen hoch und nimmt dann den Faden umstandslos wieder auf.

Porträt Emanuel Meshvinski
Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg probt in der Musikhochschule. © FUNKE Foto Services | Michael Rauhe

Meshvinski spielt nicht nur mit, komponiert und arrangiert, er ist auch Organisator und treibende Kraft. Trommelt die Mitwirkenden zusammen und beantragt Fördergelder. „Ich liebe es, mittendrin zu sein“, sagt er. „Ich spiele nicht gern in großen Orchestern, da habe ich immer das Gefühl, es kommt gar nicht auf mich als Einzelnen an. Hier habe ich mehr Verantwortung.“

Verantwortung. Großes Wort für einen 22-Jährigen. Meshvinski hat offenkundig keine Scheu davor. Es ist kein Zufall, dass er Herz und Seele des Ensembles ist. 2018 rief sein Vater Pjotr es ins Leben – mit seiner Mutter an der Geige und ihm, damals Teenager, an der Bratsche. Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg war gleichsam als Wiederbelebung des Jüdischen Kammerorchesters Hamburg gedacht, das 1934 unter dem Eindruck der staatlichen Repressalien gegründet worden war. Es war eine Art künstlerischer Zufluchtsort für die Betroffenen. Ganze vier Konzerte konnte das Jüdische Kammerorchester geben, das letzte Anfang 1935. Manche seiner Mitglieder sind heute vollkommen vergessen.

Als Kind fand er, Sohn einer Geigerin und eines Cellisten, Klassik langweilig

Die Meshvinskis sind selbst Juden. Emanuels Eltern, von Beruf Geigerin und Cellist, sind Anfang der 90er-Jahre aus St. Petersburg eingewandert, er ist in Hamburg geboren. Zu Hause sprach die Familie Russisch, aber sein überaus eloquentes Deutsch nennt er seine Muttersprache. Die Eltern waren zwar geprägt vom sowjetrussischen, ab frühester Jugend professionell durchgetakteten Musikausbildungssystem. Meshvinski aber wirkt nicht, als hätten sie ihn als Kind unter entsprechenden Erwartungsdruck gesetzt. „Ich hatte wenig Interesse an der Klassik“, erzählt er unbekümmert. „Elektronik und Pop fand ich viel cooler.“

Er bastelte Klänge am Laptop, entdeckte seine Liebe zur Filmmusik – und als er 15 war, trat Gustav Mahler in sein Leben. „Die zweite Sinfonie hat mich richtig berührt. Das ist unglaublich emotionale Musik, sehr stark und sehr zugänglich.“ In der Zeit begann er erste Filmsequenzen zu vertonen. Auch hier war Mahler sein Leitstern. „Ich wollte lernen, wie er das gemacht hat.“

 An der Hamburger Musikhochschule studierte er zunächst Bratsche. „Ich wusste, dass ich später nicht in ein Berufsorchester will oder solistisch auf der Bühne stehen. Ich wollte lieber Kammermusik machen.“ So wechselte er zum Hauptfach Komposition, aber dem Professor waren seine Stücke nicht modern genug. Im September 2021 ging er nach Zürich an die Hochschule der Künste, denn dort gab es einen Studiengang Komposition für Film, Theater und Medien. „Das war es ja, was ich wollte.“   

„Wir feiern mit Freunden Weihnachten oder Pessach – wie es sich ergibt“

Wenige Wochen später starb sein Vater, erst 55 Jahre alt. Das Jewish Chamber Orchestra hätte kurz darauf das elfte von zwölf Konzerten in den Hamburger Kammerspielen geben sollen. Der Termin wurde verschoben, die Reihe konnten sie noch abschließen. Wie es danach weitergehen sollte, blieb unklar. Meshvinski steckte mitten in seinem Zürcher Studium. Seit 2023 nimmt das Kammerorchester wieder an Fahrt auf. Das Niveau spricht für sich. Jüdisch zu sein ist keine Voraussetzung, um mitzuspielen. „Ich habe mich nicht gezwungen gefühlt, nach dem Tod meines Vaters weiterzumachen“, sagt Meshvinski. „Das trenne ich von der Familie. Es macht mir einfach wahnsinnig Spaß, das aufzubauen.“

Zur Tradition, auch zur jüdischen, hat er ein entspanntes Verhältnis. „Klar bin ich kulturell jüdisch geprägt“, sagt er, „aber wir sind nicht religiös. Wir feiern mit Freunden Weihnachten oder Pessach – wie es sich ergibt.“ Darauf angesprochen, was die Anschläge der Hamas, die sich am 7. Oktober zum ersten Mal jähren, für ihn bedeutet haben, hält er einen Moment inne. „Durch die Folgen dieser Anschläge habe ich mich zum ersten Mal als Jude unsicher gefühlt“, sagt er dann nachdenklich. „Nicht auf der Straße. Aber wir gehen als Orchester ja in die Öffentlichkeit.“

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Schon vor dem 7. Oktober 2023 hatte er für die Konzerte Polizeischutz beantragt. Für den 9. November war ein Gedenkkonzert anlässlich der Pogromnacht von 1938 geplant. Kurz überlegten sie, ob es zu gefährlich sei, das Konzert zu spielen, und berieten sich mit der Polizei. „Die haben verschiedene Konzepte. Die verraten sie einem nicht unbedingt. Aber bei dem Konzert standen zehn Polizisten vor dem Eingang. Das war auch für das Publikum ein wichtiges Zeichen“, sagt er und fügt leise hinzu: „Klar hätte ich lieber, dass es auch ohne geht.“

Diesen Sommer hat er sein Studium in Zürich abgeschlossen, seither wohnt er wieder bei seiner Mutter in der Hamburger Neustadt. Sein Traum: dass die Orchestermitglieder irgendwann von den Engagements leben können. Dass das noch eine Weile dauern könnte, schreckt ihn nicht. „Ich bin jung, ich brauche nicht viel.“ So viel ist klar: Die Energie und den langen Atem dazu hat er.

„Klassik meets Burlesque“ Sa 28.9., 19.00, Rolf-Liebermann-Studio (U Hallerstraße), Oberstr. 120, Tickets zu 35,- unter www.phoenix-festival.de