Hamburg. Der Auftrittsort des Streichquartetts war ungewöhnlich, ergab aber Sinn – ein besonderes Konzert des Jewish Chamber Orchestra Hamburg.
Ein Streichquartett gibt ein Werkstattkonzert, das ist im Klassiksektor nichts Ungewöhnliches – hier ist es aber wörtlich zu verstehen. Denn das Ensemble, die Kerntruppe des Jewish Chamber Orchestra Hamburg, spielt an diesem
mutmaßlich letzten Sommerabend des Jahres an einem sehr besonderen Ort: Dort, wo an der Wand noch ein verblasstes Schild „Büro und Annahme durch den Torbogen rechts“ von der Nutzung als Autowerkstatt zeugt, erhob sich einst der Israelitische Tempel, der weltweit erste Synagogenbau des liberalen Judentums.
Am rückwärtigen Ende des Grundstücks ragt eine backsteinerne Wand empor. Einigermaßen mitgenommen sieht sie aus, die Mitte verdeckt eine Bauplane. Die Primaria und ihre drei jungen Kollegen haben in der Durchfahrt Aufstellung genommen, das Publikum, vielleicht 50 Menschen, steht auf der rissigen Asphaltfläche dazwischen unter dem grauen Himmel. „Wir stehen im ehemaligen Innenraum des Tempels“, erläutert Miriam Rürup. Sie ist die Vorsitzende des Vereins TempelForum, der am Tag des offenen Denkmals zu diesem Konzert eingeladen hat, und als zur jüdischen Geschichte forschende Historikerin denkbar berufen für die Vermittlungsarbeit.
Fast ein Werkstattkonzert: der Auftritt des Jewish Chamber Orchestra Hamburg
1844 eröffnet, diente der Israelitische Tempel bis 1931 als Synagoge der reformjüdischen Gemeinde, dann wurde er von einem Neubau in der Oberstraße abgelöst, dem heutigen Rolf-Liebermann-Studio. Den Brandschatzern der Reichspogromnacht entging er zwar, aber er geriet für lange Zeit in Vergessenheit und verfiel zusehends.
2019 begann sich ein buntes Häuflein von Interessierten zu treffen, um sich für die Ruine einzusetzen: Architektinnen und Denkmalschützer, Anwohner und Künstlerinnen, Hamburger Juden und Jüdinnen. Der Lichtkünstler Michael Batz schuf seine
Installation „Tempelleuchten“ – zwar nur auf der Straße vor dem Grundstück, weil die Initiative nicht hineindurfte. Aber die Menschen kamen.
Vielleicht schwingt ja die große Vergangenheit noch in den mürben Backsteinmauern des Tempels
So wie an diesem Abend. Zu Gehör gelangt das Streichquartett von Edvard Moritz aus dem Jahre 1926. Komponiert wurde es in Hamburg, lange bevor Moritz das Jüdische Kammerorchester Hamburg gründete und 1937 in die USA emigrierte. Man kennt es nur nicht. Dabei funkelt das Werk vor Esprit. Moritz wechselt effektvoll die Stimmungen und nutzt die Möglichkeiten der Streichinstrumente. Die vier haben das Werk gründlich und professionell erarbeitet, die Akustik in der Tordurchfahrt ist erstaunlich gut. Auch die „Fünf Stücke für Streichquartett“ von Erwin Schulhoff, entstanden ebenfalls in den 1920er-Jahren und in der Tonsprache deutlich avancierter, sind ein Vergnügen anzuhören.
Vielleicht schwingt ja die große Vergangenheit noch in den mürben Backsteinmauern. In der Gegenwart ist jedenfalls Bewegung. 2020 hat die Stadt das Grundstück erworben und die dringendsten Sicherungsarbeiten vorgenommen. Aber was soll aus der Ruine werden? Dazu gibt es zahlreiche Stimmen und vielfältige Vorstellungen – bis hin zum Wiederaufbau des Bauwerks und Nutzung als Synagoge, wie es die Liberale jüdische Gemeinde in Hamburg fordert.
Das TempelForum verfolgt demgegenüber kein bestimmtes Ziel; es versteht sich als Mediator eines öffentlichen Prozesses zum Erhalt und zur öffentlichen Nutzung der Tempelruine. „Alle haben unterschiedliche Sichtweisen auf das Projekt“, sagt die Architektin Alexandra Merten, die ebenfalls im Vorstand des Vereins aktiv ist. „Aber hier in der Neustadt ist der Tempel ein Thema. Sobald die Tür offen ist, kommen die Leute.“
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Am 25.10. lädt das TempelForum zu einer Diskussion zum Zustand der Tempelruine an den Ort selbst, Poolstr. 12-14; Infos unter hamburg-tempel-poolstrasse.de. Das Jewish Chamber Orchestra Hamburg ist am 28.9. zum Abschlusskonzert des Phoenix Festival im Rolf-Liebermann-Studio zu hören, Infos und Tickets unter jco-hamburg.de/konzerte. Und am Montag, dem 16.9., gastiert auf Kampnagel das Jewish Chamber Orchestra Munich mit dem Musiktheater „Kofflers Schicksal: die „Goldberg-Variationen“, Infos und Tickets unter kampnagel.de