Hamburg. Eigentlich macht der lebenspralle Text es den Darstellerinnen am Schauspielhaus leicht – nur ins Spiel finden sie nicht.
Der Baum ist schön. Majestätisch ruht er auf den Brettern des Schauspielhauses und lässt sich auf der Drehbühne langsam im Kreis fahren. Bühnenbildnerin Katrin Brack hat ganze Arbeit geleistet. Doch etwas stimmt nicht. Das Innenleben des Baumes ist ausgehöhlt, von Eisenklammern notdürftig zusammengehalten. Die Wurzel ist vom Stamm getrennt.
Unermüdlich bringen die fleißigen Baumarbeiter Sachiko Hara und Lars Rudolph neue Äste an. Viel mehr haben sie bis auf einige spät fallende Sätze nicht zu tun in Jossi Wielers Adaption des 1928 erschienenen Virginia-Woolf-Romans „Orlando“. In einer Bühnenfassung von Ralf Fiedler feierte sie am Freitagabend Premiere im Schauspielhaus.
„Orlando“ am Schauspielhaus: Ein schillerndes, genderfluides Panorama
In dem Roman spielt ein Eichbaum eine wesentliche Rolle, denn die Hauptfigur Orlando schreibt ein Leben lang an einem Text mit dem Titel „Die Eiche“. Der „Orlando“-Text wiederum wird in der Inszenierung von fünf Spielerinnen beatmet, die sich um einen Tisch gruppieren. Fast alle tragen Kurzhaarperücken und an die 1980er-Jahre angelehnte Alltagskostüme mit weiten Sakkos, Hemden und Hosen (Kostüme: Anja Rabes), die ein wenig nachlässig zusammenkombiniert wirken.
Wieler splittet den Text auf fünf Ichs auf. Eine fiktive Biografie soll sich hier offenbaren, die des britischen Edelmannes „Orlando“, der beginnend im 16. Jahrhundert noch zu Lebzeiten von Elisabeth I. durch die Jahrhunderte rast, im Viktorianischen Zeitalter Halt macht, sich bis in die Gegenwart vorarbeitet – und dabei keine Sekunde zu altern scheint.
Das Leben dieses Orlandos ist ein schillerndes, genderfluides Panorama, das viele Überraschungen bereithält: die Begegnung mit einer geheimnisvollen russischen Gräfin, eine Ehe mit einer Tänzerin, eine Bekanntschaft mit einem Kapitän. Kurzzeitiges Leben mit Nomaden in den Bergen des Südens. Dann wieder britisches Klima feucht und klamm. Moralvorstellungen stehen auf dem Prüfstand – und bald auch Identitäten. „Bist du dir sicher, dass du kein Mann bist?“, heißt es da. „Ist es denkbar, dass du keine Frau bist?“
Als ob man den Schauspielerinnen beim Denken zuschaue
Und die Schauspielerinnen artikulieren das wirklich bravourös, tanzen auf den Silben, lassen sie weich auf der Zunge zergehen. Häufig hinterfragen sie das Gesagte, und dann ist es, als ob man ihnen beim Denken zuschaue. Julia Wieninger macht mit hoher Konzentration selbst Nebensätze zum Ereignis. Bettina Stucky treibt zupackend immer wieder den Text voran und verwandelt sich in einen lebenslustigen Kapitän. Hildegard Schmahl versieht ihre Sätze mit zarter, lebensweiser Ironie.
Eigentlich macht es ihnen dieser lebenspralle Text voller schillernder Figuren und Wendungen leicht – nur ins Spiel finden sie nicht. Und so tritt die Inszenierung seltsam auf der Stelle. Im Grunde sehnt sich Orlando nach der Einsamkeit des Schreibens und der Kunst, der Literatur. „Orlando (….) liebt von Natur aus einsame Orte, weite Ausblicke und das Gefühl, für alle Zeiten und alle Ewigkeit allein zu sein“, sagt Julia Wieninger. Und so verliert der Stoff in dieser nachdenklichen, melancholischen Version viel von seiner Leichtigkeit: „Was das Leben ist – o weh, wir wissen es nicht.“
Was bestimmt eigentlich die eigene Identität?
Immerhin, als Orlando nach einer siebentätigen Trance in Konstantinopel auf einmal als Frau erwacht, führt das auch zu einem gewissen Erwachen auf der Bühne. Die Perücken fallen, Linn Reusse streift sich Ketten und ein langes gelbes Kleid über. In einer der wenigen wirklichen Begegnungen stürmt sie auf Sandra Gerling zu und platziert einen Kuss auf ihren Lippen. Ein Gefühl von Befreiung ist spürbar, mitunter verstärkt durch wenige hingetupfte Akkorde von Live-Musikerin Friederike Bernhardt.
Und man kommt ins Nachdenken, wie formt sich ein „Ich“? Was bestimmt eigentlich die eigene Identität? Welche Rollenzuschreibungen machen aus einem Menschen einen Mann oder eine Frau? Doch bei Jossi Wieler ist es im Grunde kein Stück über aktuelle Gender-Fragen. Viel stärker beschäftigt ihn die Einsamkeit eines Menschen, der sich zwischen der Liebe zur Literatur und zur Natur bewegt. Fragen, die ins Innere, ins Seelenleben führen.
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Wieler ist als feiner, genauer Spracherkunder bekannt. Der 1951 geborene Schweizer Regisseur hat noch in der Ära Frank Baumbauer an gleicher Stelle so herausragende Arbeiten abgeliefert wie 1994 Elfriede Jelineks „Wolken.Heim“. Seinen Zugang zur Sprache kann man fast schon musikalisch nennen, weshalb er sich eine ganze Weile überwiegend auf das Inszenieren von Opern verlegt hat. Bei „Orlando“ aber beschleicht einen das Gefühl, dass ihm jenseits des Klanges der Worte die Lust am Spiel seltsam abhandengekommen ist.
„Orlando“ am Schauspielhaus bleibt leider sehr statisch
Und so bleibt dieser Abend leider sehr statisch. Man kann ihn als konzentriertes Hörspiel betrachten, wenn man sich das Lesen des Romans ersparen will. Bis zum Schluss wird man das Gefühl nicht los, einer Leseprobe beizuwohnen, die ihre Form noch sucht – auch wenn sie sehr exakt artikuliert wird. Am Schluss immerhin spitzen sich die Dinge ein wenig zu, je weiter sich der Text der Gegenwart nähert. Orlando wird mit dem hektischen Treiben der Stadt und ihrem Verkehr konfrontiert. Am Ende der Zeitenwanderung steht das Ankommen im Hier und Jetzt. Ein Sturm zieht auf. Nebel hüllt die Bühne ein. Und ja, doch, der Baum ist wirklich schön.
„Orlando“ weitere Vorstellungen 28.1., 18 Uhr, 4.2., 16 Uhr, 10.2., 19.30 Uhr, 28.2., 19.30 Uhr, 15.3., 19.30 Uhr, 27.3., 19.30 Uhr, Deutsches Schauspielhaus, Kirchenallee 39, Karten unter T. 24 87 13; www.schauspielhaus.de