Hamburg. Zum Saisonstart T.C. Boyles Bestseller „Blue Skies“: im Programmheft Insektenrezepte, auf der Bühne Schlangenprint und böser Humor.
Blauer Himmel. Genug Alkohol. Lachsschnittchen und auch was Vegetarisches auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz am Thalia Theater. Theaterpremiere mit Stehempfang zum Saisonstart. Herrlich. Ja, gut, ein paar brechende Dämme in ein paar Nachbarländern, bisschen viel Regen da zuletzt, Überschwemmungen, Notstand, kam eben im Autoradio. Aber hier ja nicht. Hier, am Thalia Theater, läuft gleich eine schöne Klima-Satire nach dem Bestsellerroman von T.C. Boyle: „Blue Skies“. Zitat aus dem Roman: „Veranstaltete man überhaupt noch Abendgesellschaften? Wozu eigentlich? Die eine Hälfte der Welt stand unter Wasser, die andere war ausgedörrt.“ Ist noch Sekt da?
Die Parallelität der Ereignisse ist zum Spielzeitbeginn am Thalia, wo Regisseur Jan Bosse die Romanadaption besorgt, noch augenfälliger als sonst. Auch wenn keine frittierten Heuschrecken zur Kultursenatorenrede gereicht werden – im Programmheft immerhin gibt es ein Rezept zum Nachkochen (Vorsicht vor der Grillenfahne!). Und auf der Bühne ist Ottilie, kalifornischer Alt-Hippie, Mutter zweier erwachsener Kinder und das emotionale Zentrum der Familie, fest entschlossen, das Beste aus der Apokalypse zu machen.
Klima-Satire „Blue Skies“ am Thalia Theater: Macht das Beste aus der Apokalypse!
Die Drehbühne rotiert eine einsame Palme um die Live-Band, die den titelgebenden Jazzstandard spielt, während an der amerikanischen Ostküste Hurrikane und Überflutungen die Lebensräume wegpusten oder dahinschimmeln lassen und an der Westküste das Thermometer auf unerbittliche 46 Grad und mehr steigt. Menschen werden mit Hitzeschlag in ihre Pools geworfen, der Nappa-Valley-Wein schmeckt nach Asche. Auf der konkaven Breitbandleinwand (Bühne: Stéphane Laimé, Video: Meika Dresenkamp) flutet permanent der Regen, brennt die Sonne oder bewegen sich überlebensgroße Falter in Zeitlupe. Und der nächste Drink ist immer in Griffnähe.
Betäubung ist auch arg notwendig bei all den Qualen, die der hier versammelte ohnehin ziemlich dysfunktionale Haufen erleiden muss, während „das Anthropozän in seinen letzten Zügen“ röchelt. Ottilie und Frank (hübsches Detail: die Maske hat Bernd Grawert als Frank mit T.C. Boyles charakteristischer Punkflusenfrisur ausgestattet) versuchen in Kalifornien zugleich die Sippe zusammenzuhalten und sich an den Kollaps zu gewöhnen. Das fordert Überwindung: Christiane von Poelnitz, die als Ottilie im schmetterlingsbunten Flatterfummel unermüdlich Maden-Tacos und Artverwandtes serviert, darf sich durch eine ganze Brechreiz-Klaviatur würgen, dass es ein wahres Ekel-Fest ist.
Auch die Zecken müssen kotzen. Bittere Ironie des Schicksals.
Auch die Zecken kotzen, was für den Menschen allerdings weniger lustig ist als Mundgeruch verursachende Heuschrecken-Tapas: Sohn Cooper, genannt „Bug Boy“ (Johannes Hegemann), der sich für Insekten immer schon mehr begeistern konnte als für seine eigene Spezies, kostet ein solch infizierter Zeckenbiss seinen rechten Arm. Während er mit einer Zeckenforscherin zusammen ist. Bittere Ironie des Schicksals.
Seine Schwester Cat lebt mit einem Bacardi-Botschafter (Steffen Siegmund) in Florida und wäre gern Influencerin, wofür sie sich hübsch gemusterte Pythons zulegt und selbst bevorzugt Schlangenprint am Leib trägt. Pauline Rénevier spielt Cat als eine Art überforderte Reptilien-Barbie, helle sind an ihr nur die Extensions. Promille-Pegelstände steigen in diesem Haushalt ähnlich radikal wie das Hochwasser vor der Tür. Dass es keine ganz gute Idee ist, Würgeviecher und Zwillingsbabys in Sichtweite zueinander zu halten, führt erwartbar zur zentralen Katastrophe, die aber letztlich auch nur eine unter vielen ist.
Am liebsten schaut man eigentlich Merlin Sandmeyer als Cats schmierigem Schlangendealer RJ (und in einer Roadtrip-Szene auch als dessen MAGA-Bruder) zu. Sandmeyer war erst am Wochenende für sein komödiantisches Talent mit dem Deutschen Schauspielpreis ausgezeichnet worden und baut sich auch hier die eigentlichen Nebenrollen in der abgedrehten Gemeinschaft lässig zum eigenen kleinen Juwel aus.
Eine Dystopie als ausstattungsvernarrte Plagen-Party
Aber sonst? Jan Bosse erzählt T.C. Boyles so ätzend böse wie liebevoll komische Dystopie als ausstattungsvernarrte Plagen-Party mit Musikuntermalung, was die mehr als drei Stunden zusätzlich in die Länge zieht. „Kunst soll es den Leuten ermöglichen, selber zu denken“, darf der angenehm stoische Grawert zum Ende hin noch einmal Boyle zitieren. Wer das extra betonen muss, traut dem Publikum genau dieses Selberdenken offenbar weniger zu.
Für Arachnophobiker oder Menschen mit Angst vor Schlangen, Krabbeltierchen oder Weltuntergängen im Allgemeinen könnte der Abend hier und da eine Herausforderung sein, formal ist er es nicht. Wer den (übrigens empfehlenswerten!) Roman bereits kennt, wird in dieser knallbunt bebilderten Nacherzählung selten darüber hinaus geführt, wenn auch immer wieder durchaus gut unterhalten. Nur gelegentlich kippt der Pointen-Flow mal durch die direkte Ansprache, wenn von der Rampe ins Parkett gebrüllt wird: „Ihr lasst euch so ’ne Scheiße einreden! Seht ihr nicht, was hier passiert? Checkt ihr das nicht?!“
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Das Premierenpublikum feiert Ensemble und Regieteam trotzdem mit ausgelassenem Applaus. „Lasst uns alle dem Untergang des Planeten trotzen!“ lautet ein Trinkspruch im Stück. Kann man, bevor es in den Spätnachrichten wieder anstrengend wird, dann direkt selbst anwenden. Thalia-Chef Joachim Lux, dessen letzte Spielzeiteröffnung als Intendant dieser Abend ist, verspricht nach der Vorstellung: „Sekt für alle!“