Hamburg. Nichts anderes als ein Literaturrockstar ist T.C. Boyle. Liegt am Bart. Und daran, dass er sagenhaft unterhaltsam schreibt. Über alles.

Wir haben uns gerade von der fetten Schlange erholt, die in „Blue Skies“ ein Kind erdrosselte. Und denken vielleicht noch an T.C. Boyles letzten Auftritt in Hamburg, vor voller Hütte an der Uni. Schafft nicht jeder, das Audimax zu füllen. Es gibt also schon wieder Nachschub vom amerikanischen Literaturrockstar T.C. Boyle, einen Erzählungsband. Er trägt auch in der deutschen Übersetzung den Titel „I walk between the Raindrops“. Es gibt einen Song von Steely Dan, der (fast) so heißt, nur das „I“ fehlt da, so oder so ist das ein großartiges Sprachbild, das Leben ist kein Sonnenschein, aber man marschiert halt weiter.

In den 13 neuen Storys, die der Erzählmeister aus Kalifornien in Zeitschriften wie „Playboy“ und „The New Yorker“ veröffentlichte, geht es nie um Menschen, denen die Sonne aus dem Allerwertesten scheint. Es liegt immer eine Bedrohung in der Luft, man weiß beim Lesen: Jeder und jede kann hier abstürzen. So wie der Held in „Hundelabor“, dessen Flugzeug beim Landeanflug in ungemütliche Turbulenzen gerät. An Bord sind auch Hunde, die nach der Reise-Sedierung die Gepäckabteilung bebellen, als der Flieger endlich sicher steht. Der Protagonist hat auch sonst viel mit Hunden zu tun, er seziert sie in seinem Medizinstudium im Labor. Was ethisch nicht okay ist. Aufschneiden, Gallenblase rausholen, zunähen. Dann der nächste chirurgische Eingriff, ein paar Tage später, wenn sich das arme Tier erholt hat.

Literatur: Neues Buch von T.C. Boyle: die Verzweiflung des modernen Menschen

T.C. Boyle ist, wenn überhaupt, ein literarischer Chirurg. Mit Blick für szenische Details und, im Falle der Shortstory besonders wichtig, dem Sinn für minimale Fülle legt er die Verzweiflung des modernen Menschen frei. Dabei kommt diesmal auch eine der problematischsten Sozialfiguren der Gegenwart zu ihrem Recht, der Incel. Eine Forscherin, die auch Mutter einer Tochter ist, reist in „What‘s Love Got To Do With It“, aus Los Angeles nach Texas. Mit dem Zug. Und kann sich des jungen, misogynen Mannes nicht erwehren, der sich im Bordrestaurant zu ihr setzt. Der Typ zeigt Sympathien für einen Amokläufer, einen Loser, wie er selbst irgendwie auch einer ist. Ein Mann, der bei den Frauen keinen Stich macht und das mit einer aggressiven Vorwurfshaltung in die Welt postuliert.

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Das Aufeinandertreffen von besorgter Mutter und überzeugtem Frustmensch ist der gelungene erzählerische Versuch, der Ratlosigkeit gegenüber dem Bösen eine literarische Gestalt zu geben. Boyles Wahrnehmung des jungen, männlichen Amerikas ist, so kann man es sicher sagen, von tiefer Skepsis geprägt. In „Blue Skies“, dem Klimawandelroman, überwogen die gesellschaftssatirischen Aspekte. In den neuen Erzählungen ist das teilweise genauso. In „Die Form einer Träne“ ist es ein 31 Jahre alter narzisstischer Mann, der seit Jahren bei seinen Eltern wohnt.

„I walk between the Raindrops“ von T.C. Boyle: Lässig erzählte Signaturen der Gegenwart

Ein unverantwortlicher, später Sohn, den seine Mutter („Und mein Baby war schöner als die Schönheit selbst“) nach einer künstlichen Befruchtung bekam. Das absolute Wunschkind, das für die Eltern zum Albtraum wird, nachdem es selbst Vater wurde. Was aber nicht in seinen egoistischen Lebensplan passte, weshalb er seine Freundin verließ, das Studium abbrach, um sich fortan bei seinen Eltern durchzuschnorren. Die gehen zum Gericht und erwirken eine Räumungsklage. Boyle schildert den Krieg zwischen Eltern und Kind nun aus beiden Perspektiven, und man kann die Parteilichkeit natürlich langweilig finden. Allerdings kann eine gute Story eben auch ausmachen, dass eine Figur komplett unmöglich ist und jede Szene und jede andere Figur nur dazu da ist, dies zu verdeutlichen.

Das Buchcover von „I walk between the Raindrops“, übers. v.  Dirk van Gunsteren und Anette Grube, Hanser-Verlag, 270 S., 25 Euro.
Das Buchcover von „I walk between the Raindrops“, übers. v. Dirk van Gunsteren und Anette Grube, Hanser-Verlag, 270 S., 25 Euro. © Hanser Berlin | Hanser Berlin

Die neuen Boyle-Storys sind lässig erzählte, souverän geplottete Signaturen der Gegenwart. Wobei die surreale Horrorgeschichte vom kollektiven Unwohlsein, gar Durchdrehen in Südfrankreich (war es die giftige Hefe im Baguette?) nicht das einzige europäische Highlight des Bandes ist. In „Die Wohnung“, einer überzeitlichen Komödie, ist es ein sich smart dünkender Monsieur, der gegen eine Leibrente bis zu ihrem Tod die Behausung einer alten Dame erwirbt. Leider wird sie sehr, sehr alt. Die älteste Frau der Welt, um genau zu sein. Man kann sich früh denken, wie die Geschichte ausgeht, aber man delektiert jeden Satz, den Boyle über das kleine Drama schreibt.

Das ist ein Autor, der nie langweilt, der nie enttäuscht. Mehr kann man über seinesgleichen eigentlich nicht sagen.

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