Hamburg. Dem Nachwuchs eine Chance und viele Hilfestellungen: zu Besuch in der Masterclass von NDR-Chefdirigent Alan Gilbert in der Elbphilharmonie
Kein Taktstock, und mit zwei Händen dirigieren könnte ja jeder. Auch die Arme blieben, scheinbar ganz einfach, unten. Einer der Lieblings-Konzerttricks von Leonard Bernstein war das Dirigieren nur mit den Augen. Blickkontakt und Charisma – mehr brauchte er nicht, um damit zu bekommen, was immer er wollte. Die sieben Nachwuchskräfte, mit denen NDR-Chefdirigent Alan Gilbert drei Tage lang Partitur-Ballett trainiert, sind von dieser Coolness weit entfernt. Am letzten der drei Tage darf Publikum bei einer Probe im Großen Saal der Elbphilharmonie dabei sein. Ins Navi einprogrammiert sind Brahms‘ Vierte und Schumanns Zweite Sinfonie. Standardstücke. Das Ziel ist also klar. Der passende Weg aber: Willkommen im Abenteuerland.
Wo und wie zupackend oder sanft die Hände ans Steuerrad kommen, wo war noch mal das Gaspedal, wo ist die Bremse, und wie sicher ist die Straßenlage in hakeligen Sonatenhauptsatz-Kurven, erst recht bei Brahms, in dessen Melodielinien man oft nur ahnt, wo die Eins sein könnte? Dirigieren ist randvoll mit vielen Entscheidungen in Sekundenbruchteilen. Eine falsche Bewegung, schon ist man mit Totalschaden im Graben. Sie habe keinen Führerschein, berichtet Agata Zajac in der Probenpause, aber so wie die Arbeit mit diesem Orchester in diesem Saal müsse sich das wohl anfühlen, wenn man das beste Auto überhaupt fährt.
In der Elbphilharmonie von Alan Gilbert lernen: Dirigieren ist nichts für Feiglinge
Die Videos von 315 Bewerberinnen und Bewerbern hatte Gilbert für seine Unterrichtsstunden gesichtet. Vier Überglückliche – alle schon mit beachtlichen Lebensläufen – blieben für diese Probenphase kurz vor Saisonbeginn übrig. Dazu kamen drei seit einer Auswahl im vergangenen Herbst bereits gesetzte „Conductor Fellows“. Für sie sind diese drei Tage der Auftakt ihrer assistierenden, beobachtenden Zeit beim NDR-Orchester und in der Nähe von Gilbert. Dass sie alle theoretisch und praktisch Dirigieren und erste Assistenz-Posten vorweisen können, verhindert aber natürlich nicht, dass Gilbert – manchmal nach wenigen Momenten – liebevoll unterbricht und nachjustiert. Die Körpersprache korrigiert und praktische Tipps gibt, die manchmal mehr nach Selbstfindungsgruppe klingen als nach Notentext-Arbeit. Dirigieren ist jedenfalls ganz eindeutig nichts für Feiglinge.
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Die sieben Adepten sitzen, auf ihre 20-Minuten-Einsätze wartend, klassisch mit Partitur oder digitalisiert mit einem iPad neben dem Blech auf der Bühne. Manchmal dirigiert der eine oder andere mit, um das Gesagte und das Gehörte unmittelbar in den Körper zu bekommen. In den Sitzreihen oberhalb der Bühne sind einige Bewerberinnen und Bewerber, die es nicht geschafft haben. Auch sie haben ihr Notenmaterial dabei und sind dann eben von dieser Warte aus ganz Ohr. Dass so erfahrene Dirigenten wie Gilbert (als Ex-Chef des New York Philharmonic in direkter Bernstein-Nachfolge-Linie) bei ihrer Arbeit über ihre Arbeit reden, passiert im Klassik-Alltag selten genug. Jeder miterklärte Takt, jede verbesserte Geste zählt, jede Hilfestellung.
Piotr Waclawik, der erste Schüler, bekommt schon nach wenigen Takten aus dem ersten Satz von Brahms Vier von Gilbert attestiert, dass viel Schönes dabei gewesen sei. Aber „unglücklicherweise spielen Orchester so, wie wir dirigieren“. Autsch. Gilbert möchte auch bei abgedrehtem Ton erkennen können, welches Stück dirigiert wird. Und wenn man dem Tutti mit der Rechten klar signalisiert, wo man gerade ist und wohin es gehen soll, „dann fühlen sie sich geliebt“. Niemand aus dem Orchester widerspricht.
Ein Orchester dirigieren? Alles Zauberei hier, irgendwie
Die Nächste, bitte. Wieder Brahms Vier, nun aber der zweite Satz. Zofia Kiniorska startet energischer, raumgreifender, stück- und selbstbewusster. Das geht so lange ganz gut, bis Gilbert punktgenau anmerkt, dass die Arme eine Verlängerung des Herzens sein sollten. Gibt man einen Auftakt, sollte der nicht trocken sein. Um buchstäblich zu spüren, was Gilbert meint, wenn er so etwas umschreibt, soll sie ihre Hand auf seinen rechten Oberarm legen, während er vorführt, was gemeint ist. Und das Erstaunliche, Tolle, Unerklärbare dieses Berufs, den man studieren, aber nur selten beherrschen kann: Es klingt tatsächlich sofort anders. „Wenn das Tempo steht, dann leite ich sie nicht nur“, erklärt Gilbert eine andere Stelle, „dann folge ich ihnen auch.“ Übersetzt hieße das in etwa: Alles Zauberei hier, irgendwie. Und doch auch nicht.
Die dritte Kandidatin, Xiao Geng, ist die erste Führungskraft, die dem ganzen Ensemble „Guten Morgen“ wünscht. Auch dieser Ton macht letztlich Musik, Orchester wittern so etwas. Das elegisch ausgesungene Motiv der beiden Klarinetten gefällt ihr so ausnehmend gut, dass Gilbert, immer noch entspannt freundlich, kommentiert: „Sehr schön, aber ein kleeeeeines bisschen langsam …“ Damit sie für sich klarer bekommt, was alles an Zeichengebung möglich ist, schlägt Gilbert ihr eine nicht ganz ungemeine, aber ungemein effektive Übung vor: die Linke für eine Passage hinter dem Rücken halten und den Brahms einhändig organisieren. Weil klare Ansagen Probenzeit-Verschwendung vermeiden können, übt er mit ihr auch noch, wie man unmissverständlich klarmacht, ab welchem Takt man weiterfeilen möchte.
Halbzeit, Pause. Schon vom Zusehen und Zuhören ist man erschöpft. So viele Fehlerquellen, so viele Chancen zur Blamage. Wie man beim Dirigieren mit zwei Händen auskommen soll, obwohl man acht bis zwölf bräuchte, und dazu Nerven wie Stahlseile? Keine Ahnung.
In der Elbphilharmonie mit Alan Gilbert: „Der Klang muss schon vorher in der Luft liegen“
Kurzes Durchatmen in den Dirigenten-Garderoben. Gerald Karni ist gleich dran und freut sich auf jeden Moment. Als Dirigent müsse man immer eine Autoritätsperson sein, „hier ist das nicht der Fall“. Fehler bei der Operation an der offenen Partitur machen können, ohne sie vor Publikum gleich bereuen zu müssen, diesen Luxus bieten solche Kompaktseminare.
Karni wird Gilbert nach der Pause raten, die Füße ruhig zu halten, um sich so zu fokussieren. „Mir ist nicht klar, was du willst, und auch nicht, was die Partitur widerspiegelt.“ Benjamin Wenzelberg bringt er anders lehrreich aus dem Takt. „Mir kommt es so vor, als ob es eine Barriere zwischen Körper und Klang gibt“, analysiert Gilbert eine Szene. Auch hier beginnt ein richtiger Einsatz, bevor man irgendetwas von ihm sieht oder hört, „der Klang muss schon vorher in der Luft liegen“.
Austin Chanu, der vorletzte Schüler, kommt in Brahms‘ Andante moderato ganz ohne Unterbrechung erstaunlich weit. Aber: zu früh mit ihm gefreut. Nachdem Gilbert den „grundsätzlich guten Flow“ lobt, relativiert er: „Du solltest keine Angst davor haben, die Musik das sein zu lassen, was sie ist.“ Agata Zajac ist an diesem Morgen die Letzte, die randarf an diesen Brahms. Als auch bei ihr einige Details leicht klemmen und Akkorde nicht so ganz klar wie Hammerschläge passieren, gibt ihr Gilbert eine weitere praktische Dirigenten-Weisheit mit auf den Weg. „Wenn etwas funktioniert, ist das schon eine Menge wert.“
NDR-Saisoneröffnung: 11. / 13.9. jeweils 20 Uhr: Schönberg „Gurre-Lieder“, Alan Gilbert (Dirigent), Thomas Quasthoff (Sprecher). Elbphilharmonie, Gr. Saal.