Hamburg. Monumentalwerk zum Saisonstart: NDR-Chefdirigent Alan Gilbert dirigiert Schönbergs „Gurre-Lieder“ im Großen Saal der Elbphilharmonie.

  • „Gurre-Lieder“ sind nur sehr selten live in Hamburg zu hören
  • Komponist Arnold Schönberg wurde vor 150 Jahren geboren
  • Alan Gilbert dirigiert das NDR-Orchester in der Elbphilharmonie

Häme und Unverständnis begleiteten den Komponisten Arnold Schönberg über weite Strecken seines Berufslebens. Und selbst heute noch, fast ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod, sorgt der Name Schönberg nicht automatisch für lange Publikumsschlangen an den Kartenschaltern. „Ich glaube, dass es besser wäre, wenn er Schnee schaufeln würde, statt Notenpapier vollzukritzeln“, so hatte sich schon Richard Strauss 1912 über einen zehn Jahre jüngeren Komponisten-Kollegen lustig gemacht, nachdem der seine ersten atonalen Stücke zu Papier gebracht hatte, bei denen das Konzept von Dur und Moll keine Bodenhaftung mehr haben sollte.

Schönberg dürfte dieser verbale Tritt in die Kniekehle aber nicht allzu sehr aus dem Takt gebracht haben. Er hat unter anderem die schöne Erkenntnis hinterlassen, dass Kunst nicht vom Können komme, sondern vom Müssen. In diesem Jahr wird Schönbergs 150. Geburtstag überall in der Musikwelt gefeiert. Mal so ausgiebig wie in seiner Geburtsstadt Wien. Mal so dosiert wie ab Mitte September in der Elbphilharmonie.

1874 war auch das Jahr, in dem in der Malerei die revolutionäre Idee des „Impressionismus“ geprägt wurde, und regt dessen Ästhetik heute noch irgendjemanden auf? Doch gerade weil auch 2024 noch so viele beim Namen Schönberg sofort an die Vokabel „Zwölftonmethode“ denken wie an eine Wurzelkanalbehandlung im Dunkeln ohne jede Narkose, ist das erste Stück im Gratulations-Sortiment, kredenzt vom NDR-Orchester und dessen Chefdirigenten Alan Gilbert, ein typisch untypisches Frühwerk. Eine Rarität, die mühelos als aus dem Ruder gelaufener Mahler durchgehen könnte: die „Gurre-Lieder“. Dieses Breitwand-Irgendwas über ein mittelalterliches Liebesdrama aus Dänemark für rund 250 Mitwirkende, zwischen Oratorium, Symphonie, Kantate und Oper, an dem Schönberg mit langen Pausen seit 1900 gearbeitet hatte.

Die Elbphilharmonie gratuliert Schönberg groß zum 150. Geburtstag

„Welch ein Moment meines Lebens!“, schrieb sein Kompositionsschüler Anton Webern verzückt über die Premiere. „Unvergesslich. Die Empfindung dieses brausenden Klanges regt mich auf zum Vergehen.“ Die zweite der beiden NDR-Aufführungen hat für diese Empfindung einen idealen Termin: Freitag, der 13.9., pünktlich zum Geburtstag; noch schöner, dieses Timing, wenn man weiß, wie abergläubisch Schönberg war, ganz besonders in Bezug auf die Zahl 13.

Mehr zum Thema

Komponist Arnold Schönberg
Über den Charakter und den Humor des vor 150 Jahren geborenen Komponisten Arnold Schönberg gibt es eine berühmte Anekdote: Auf die Frage eines vorgesetzten Offiziers, ob er der Schönberg sei, soll er geantwortet haben: „Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen. Da habe ich mich halt hergegeben.“ © picture alliance / brandstaetter images/Votava | brandstaetter images/Votava

So sehr spätestromantisch war dieser aus der Zeit gefallene Trumm, der als kleiner Liederzyklus begonnen hatte, dass Schönbergs Personalstil zum Zeitpunkt der umjubelten Uraufführung im Februar 1913 im Wiener Musikverein schon längst weiter seiner Zeit voraus war: Nur wenige Wochen später sollte er bei der Premiere seiner freitonalen Kammersinfonie op. 9 in Wien an der gleichen Adresse das genaue Gegenteil erleben. Der Abend des 31. März mit weiteren Werken von Schülern und Freunden ging als „Watschenkonzert“ in die Skandal-Musikgeschichte ein, weil es zwischen den Geschmacks-Fraktionen im Saal gepflegt handgreiflich wurde. Erst einige Jahre später wurde es dann endgültig zwölftönig im Schaffen dieses Komponisten, der sich nie als „Revolutionär“ bezeichnet hatte. Es ging nur halt nicht anders als so, wie er es – mehrfach – für erforderlich richtig hielt.

Schönbergs Tochter hat eine ganz direkte, persönliche Beziehung zu den „Gurre-Liedern“

Niedrige Auflösung
1993 rief Nuria Nono-Schoenberg in Venedig das „Archivio Luigi Nono“ ins Leben, um dort das Schaffen ihres drei Jahre zuvor gestorbenen Mannes in dessen Geburtsstadt für die Nachwelt zu bewahren. © © Fondazione Archivio Luigi Nono | © Fondazione Archivio Luigi Nono

Ob ihn der riesige Erfolg des einen frühen Stücks mehr betrübt hatte als die ebenso riesige Klatsche für das andere, diese musikhistorisch spannende Frage kann eine inzwischen 92 Jahre junge, reizende Dame in Venedig trotz nächster Nähe nicht beantworten: „Mein Vater hat mir nie erzählt, was er tat und warum.“ Schönbergs Tochter Nuria kam erst 1932 zur Welt, kurz bevor die Familie, vor den Nazis fliehend, in die USA abreiste. Trotzdem hat sie eine ganz direkte, persönliche Verbindung zu diesem Stück. Fast nämlich hätte sie als junge Frau bei Aufführungen den Sprecher-Part rezitiert.

„Er wollte, dass ich das spreche“, berichtet sie, „ich habe den Sprecher mit ihm einstudiert.“ Wollte sie aber dann doch nicht, erzählt sie, weil das so gewesen wäre wie mit Margaret Truman, der Tochter des Nachkriegs-Präsidenten Harry S. Truman, die habe damals überall gesungen. „Sie war wirklich schlecht. Es war nur so, weil sie die Tochter war. Und ich wollte nicht ,die Tochter von‘ sein. Mein Vater hat das verstanden. Er hat dann einen Brief in meinem Namen geschrieben.“

Schoenberg
Arnold Schönberg, seine Frau Gertrud und die kleine Tochter Nuria erreichten New York am 31. Oktober 1933 mit der „Ile de France“. Schönberg war vor den Nazis geflohen und nahm zuächst einen Posten am Malkin Conservatory in Boston an. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Warum bloß die Schönberg-Skepsis sich bei vielen im Publikum so hartnäckig hält, dazu hat dessen Tochter eine bestechend einfache These parat: „Weil man es ihnen sagt. Weil man ihnen immer wieder sagt, dass sie es nicht verstehen können. Wenn sie diese Musik einfach hören, und es gefällt ihnen oder nicht, machen sie sich darüber ihre eigenen Gedanken.“

Nuria Nono-Schoenberg: „Das ist jetzt mein Leben“

98048_223_cover.jpg

„Ich finde wahnsinnig wichtig, dass jemand eine Haltung hat“

Erstklassisch mit Mischke

Zu einem der beiden NDR-Konzerte wird Schönbergs Tochter es nicht nach Hamburg schaffen – die anhaltende Hitze in Venedig, die weite Reise. Vor einem Vierteljahrhundert allerdings war sie hier. Damals, 1999, war sie aus Venedig an die Elbe gekommen, weil an der Staatsoper die „Szenische Handlung“ „Al gran sole carico d‘amore“ des venezianischen Komponisten Luigi Nono Premiere hatte, der neun Jahre zuvor gestorben war. In eben jener Stadt, in der sie und Nono sich 1954 kennengelernt hatten.

Und das kam so: Drei Jahre nach Schönbergs Tod sollte dessen unvollendet gebliebene Oper „Moses und Aron“ in der Musikhalle vom damaligen NWDR-Orchester unter Leitung des Schönberg-Kenners Hans Rosbaud konzertant uraufgeführt werden. Die Witwe des Komponisten und seine 22-jährige Tochter Nuria reisten dafür aus Los Angeles an („Die Musik meines Vaters wurde dort ja nicht jeden Tag gespielt …“) – der zehn Jahre ältere Nono, voll der Bewunderung für diese Musik, aus Venedig. Bei einem Treffen mit der Witwe begegnete Nono auch der Tochter, und schon im nächsten Jahr heirateten Luigi und Nuria. Es gibt ein Foto der beiden aus dieser Zeit. Sieht schon sehr nach Liebe auf den ersten Blick aus? „Ja, ich glaube, das war es.“

Nuria Nono lernte den italienischen Komponisten Luigi Nono 1954 in Hamburg kennen. Sie war mit ihrer Mutter angereist, weil Arnold Schönbergs unvollendet  gebliebene Oper „Moses und Aron“ in der Musikhalle durch das damalige NWDR-Orchester uraufgeführt wurde.
Nuria Nono lernte den italienischen Komponisten Luigi Nono 1954 in Hamburg kennen. Sie war mit ihrer Mutter angereist, weil Arnold Schönbergs unvollendet gebliebene Oper „Moses und Aron“ in der Musikhalle durch das damalige NWDR-Orchester uraufgeführt wurde. © Archivio Luigi Nono, Venezia; © Eredi Luigi Nono | Archivio Luigi Nono, Venezia; © Eredi Luigi Nono

Nuria Nono-Schoenberg ist gerade in diesem Jahr doppelt beschäftigt, denn es gilt zwei Jubiläen zu würdigen: den 150. ihres Vaters und den 100. ihres Mannes. 1993 gründete sie gegenüber von dessen Geburtshaus auf der Giudecca das „Archivio Luigi Nono“, seit vielen Jahren ist sie als eine Nachlass-Verwalterin dem Arnold Schönberg Center in Wien verbunden, hat Ausstellungen kuratiert und immer wieder der Gegenwart erklärt, wie bedeutend diese beiden Männer gewesen waren, es sind und es bleiben werden. „Das ist eine Freude für mich, und ich mache es, so gut ich kann. Das ist jetzt mein Leben.“

„Gurre-Lieder“-Konzerte: 11. / 13.9. jeweils 20 Uhr, mit Thomas Quasthoff als Sprecher, Elbphilharmonie, Gr. Saal. Das Konzert am 13.9. ist im Livestream auf www.elbphilharmonie abrufbar, dort stehen auch die weiteren Termine des Schönberg-Schwerpunkts.