Hamburg. Mit vier Jahren Verspätung brachten Kent Nagano und Georges Delnon Messiaens atemberaubendes „Saint François d’Assise“ in den Großen Saal.
- 300 Mitwirkende, viereinhalb Stunden Spielzeit in Hamburg – die Messiaen-Oper fasziniert
- Mit vier Jahren Verspätung wird der monumentale Gottesdienst aufgeführt
- Es dürfte das größte Spektakel seit der Eröffnung der Elbphilharmonie sein
Nach etlichen Stunden dröhnen die sensationell gut agierenden Philharmoniker zum letzten Mal ein riesiges, nun buchstäblich All-umfassendes Vielfach-Forte in den Großen Saal der Elbphilharmonie, der zuvor jedes Detail und die unendlich vielen Klangfarbenschattierungen präsent abgeliefert und dabei akustisch nie geschwächelt hatte. Schon das war, gewissermaßen, das erste Wunder gewesen. Der heilige Franziskus hat eben demütig die Wundmale Christi empfangen, selig sein irdisches Leben ausgehaucht und sich auf den Weg in den Himmel gemacht, der Dur-Akkord verglüht jubilierend in religiöser Ekstase. Kent Nagano, in absoluter Bestform, hat auch die letzte der vielen Partitur-Schwarten auf seinem Pult komplett durchgespielt. Biblisch gesprochen: Es ist vollbracht.
Wenn später jemand wissen möchte, womit sich Nagano als Chefdirigent und Georges Delnon als regieführender Intendant während ihrer zehnjährigen Amtszeit in der Biografie der Hamburgischen Staatsoper verewigt haben, dann muss auf der Liste eine Mutprobe unbedingt ganz oben stehen: Messiaens „Saint François d’Assise“, Juni 2024 in der Elbphilharmonie, coronabedingt vier Jahre später als geplant, etwa 300 Mitwirkende. Über viereinhalb zu kurze Spielzeit-Stunden lang ein sensationelles, überwältigendes bis überforderndes musikalisches Erweckungserlebnis. Ein freiwilliger spiritueller Gewaltmarsch, ein monumentaler Gottesdienst, sicher eines der wichtigsten Meisterwerke des 20. Jahrhunderts.
Messiaen-Oper: Das größte Spektakel seit der Elbphilharmonie-Eröffnung
Viel Masse, also droht ein gewisser Spektakelverdacht, vor allem aber: Klasse. Dass gleich etliche Dutzend Plätze im Großen Saal nach der zweiten Pause leer blieben, ist verständlich und unverständlich zugleich. Dass diese Arbeit, aus der man spätabends nur noch staunend erschöpft herauswanken kann, jetzt nur noch zweimal im Spielplan steht, bevor sie unbedingt legendär zu werden hat, sollte zum sofortigen Kultstatus beitragen.
„Ein Projekt“ haben die beiden ihre szenische Übersetzung genannt, was passt und angemessen vielsagend ist. Diese himmlische Zumutung, an deren Wahrwerdung 1983 der blutjunge Nagano als Messiaens Assistent mitarbeiten durfte und so fürs Leben geprägt wurde, ist keine „klassische“ Oper mit fortschreitender Handlung mehr, sondern bis auf wenige Ausnahmen die statische Aufreihung von Lebensstationen und Ansichten eines Heiligen, also wird sie auch nicht wie eine Oper inszeniert. Sie ist hier eine Klang-Raum-Bild-Gedanken-Moral-Mit-Leid-Collage. Sie ist ein faszinierend frommes, dabei aber nicht aus der Gegenwart fallendes Stummfilmkonzert in acht Episoden, mit dem komplexesten Soundtrack des bekannten Universums, oder, um es für Wagnerianer, die solche Längen und Predigttexte entspannt wegstecken können, einzuordnen: „Parsifal“, aber mit Vogelstimmen.
Messiaen-Oper begeistert mit phänomenal genauem Chor in Hamburg
Auf einem riesigen LED-Leinwandring über der Konzertbühne platziert Delnon seine Textauslegungen, ein extragroßer, phänomenal genauer Chor darunter (Audi Jugendchorakademie und das Vokalensemble Lauschwerk) wird zum Klangwand-Kollektiv. Eine anrührende, aufrüttelnde Mediation über unser aller Gegenwart und unser aller Haltung im Leben läuft in epischer, mystischer Größe ab, über das kleine Miteinander und das große Gegeneinander im Juni 2024 ff. Maßgeschneidert auf die Saalsituation und in sie passend, wie es noch keiner anderen der Überübergröße-Produktionen dort gelang.
Schon weil auf der Bühne kein Quadratzentimeter Platz für sie frei ist, verlegte Delnon die acht Sänger auf einen Laufsteg mitsamt Kanzelpodest über die Köpfe des Orchesters. Insbesondere Jacques Imbrailo in der Titelrolle profitiert mit seinem sanft sich verströmenden Bariton davon, weil er die Marathonstrecke seiner Partie dort konditions- und wohl auch nervenschonend vom Notenpult ablesen kann.
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Anna Prohaska, als „Engel“ die einzige weibliche Stimme, das einzige aktiv handelnde Wesen, tritt in so ziemlich jeder Rangetage und auch neben Nagano in Erscheinung. Ihr Stimmvolumen ist damit mitunter hörbar gefordert, ihre Bühnenpräsenz aber ist großartig, bis hin zu dem Moment, in dem sie als „musizierender Engel“ regenbogenschillernd in den Saalhimmel entschwebt.
Delnon verkneift sich ansonsten aber viele Event-Möglichkeiten. Stattdessen holt er lieber die mittelalterliche Lichtgestalt des frommen Mahners konsequent in die schwarz-weiße Gegenwart, aus Assisi in die nächste Nähe, auch in diese Stadt. Man begleitet einen stadtteilbekannten Obdachlosen in Ottensen zum Duschbus und kommt ihm so sehr nah.
Die hiesige Uni, „Der Lehre“, „Der Bildung“ in Stein gemeißelt, der Klimaforscher und -warner Mojib Latif ist zuerst in seinem Büro und danach in den schütteren Resten eines Waldes zu sehen. Die „Sea-Watch“ auf dem Mittelmeer, „denen die viel geliebt haben, wird alles vergeben“, grübelt der Chor dazu. Zum Bild vom „musizierenden Engel“ schwebt die Kamera durch die Gänge der Staatsoper, besucht Nagano in seinem Büro; wenn gesungen wird „Musik trägt uns zu Gott, Gott blendet uns durch Wahrheit“, setzt Delnons Lichtregie diese Anweisung im Saalrund buchstabengetreu um. Man begleitet François für seine Vogelpredigt, in der sich der Orchesterapparat in eine vielstimmige Volière verwandelt, auf die Elbinsel Lühesand, und in ein Hospiz, in dem eine alte Frau wie eine Erinnerung verblasst, bevor für sie eine Kerze angezündet wird. Sollten wir nicht alle ein bisschen mehr François sein? fragt uns das alles.
Delnon durchbricht bei Messiaen-Oper in Hamburg die vierte Wand
Nahaufnahmen und eindringliche Blicke sind Delnons wichtigste Filmrequisiten. Manchmal bewegen sich Lippen fast synchron zum Gesungenen, die vierte Wand wird damit durchbrochen, das Stück spricht direkt und frontal zu seinem Publikum. Hin und wieder schrammen Delnons sehr gute Absichten sehr knapp am Sakral-Kitsch vorbei, wenn ein kleines Mädchen im Regencape einen Leuchtglobus dabei hat oder weiße Engelsscharen durch die Ränge huschen, doch auch das geht letztlich in Ordnung, weil dieses Stück nun mal seine Mittel heiligt.
Was, um Himmels willen, kann nun, nach dieser minutenlang umjubelten Sensations-Premiere noch kommen, um die musikdramatischen Möglichkeiten der Elbphilharmonie noch radikaler auszureizen? Ganz klar: Stockhausens „Licht“-Zyklus.
Weitere Termine: 6.6./9.6., jeweils 17 Uhr. Am 16.6. (19 Uhr) und 17.6. (20 Uhr): Symphoniker Hamburg und Sylvain Cambreling mit Messiaens „Turangalîla-Sinfonie“, Laeiszhalle, Gr. Saal. Für alle Aufführungen gibt es noch Karten.