Hamburg. Rückblick auf die Amtszeit, Ausblick auf seine letzte Philharmoniker-Konzertsaison: Generalmusikdirektor im Gespräch.

„Gut genug – das ist nicht genug.“ Dieses Lebensmotto nannte der damals noch ziemlich neue Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters 2016, als es um ein großes Porträt ging. Im Sommer 2025 enden für Kent Nagano zehn Jahre an der Spitze des Orchesters und als Hamburger Generalmusikdirektor, die nächste Konzertsaison wird seine letzte sein. Zeit für Rück- und Ausblicke.

„Erwarten Sie Wunder!“ war der Titel eines Ihrer Bücher. Als Sie 2015 hierher kamen und Simone Young ablösten, waren die Erwartungen an Sie genau so. War das in den Jahren danach ein Riesenstress für Sie, oder war es Ihnen egal?

Natürlich war das eine große Herausforderung, die aber positiven Stress auslöste. Damals lag in Hamburgs Kultur ordentlich Bewegung in der Luft. Die Elbphilharmonie befand sich in einer Phase der Lähmung: teilweise gebaut, ließen weitere Baufortschritte auf sich warten. Die HafenCity hatte sich noch nicht wirklich etabliert. Das Philharmonische Staatsorchester hatte viele Ambitionen und vor allem Träume. Das war eine sehr schöne, eine aufregende Zeit mit ihrer ganz eigenen Spannung.

Kent Nagano im Interview: „Wir wollten uns inhaltlich fokussieren“

Ihr nächstes Buch hieß „Ten Lessons of my Life. Was wirklich zählt“. Was haben Sie hier in diesem Hamburger Jahrzehnt gelernt, das wirklich zählt?

Natürlich viel über die einzigartigen Hamburger Musiktraditionen. Sie haben mich seinerzeit gefragt, ob Hamburg eine Musikstadt sei. Natürlich habe ich das bejaht. Während dieser zehn Jahre hatte ich viele Gelegenheiten, näher an die Quellen dieser einzigartigen Musiktradition heranzukommen und tiefgehender zu verstehen, woher sie kommen. Ich habe hier in Hamburg viel über die Geschichte Europas gelernt, was zum Beispiel der 30-jährige Krieg für Hamburg bedeutete und warum hier aus der Bürgerschaft heraus die Idee für ein erstes unabhängiges Opernhaus entstanden ist.

Vom „Hamburger Klang“ haben Sie oft und gern gesprochen. Sie haben es mir oft erklärt, ich habe das nicht immer verstanden und höre es auch nicht unbedingt immer. Wo soll in einem normalen Abo-Konzert der spezifische „Hamburger Klang“ enthalten sein, wie soll ich ihn erkennen?

Den Klang eines Orchesters erkennt man am ehesten natürlich im Vergleich mit anderen. Wenn man viel reist und viele andere Orchester hört, fällt die Individualität des Hamburger Klangs sofort auf. Müsste ich ihn beschreiben, dann würde ich sagen, dass er von großer Wärme ist. Er hat etwas mit dem Himmel der Hansestadt zu tun, mit dem Wasser, den Farben des Meeres. Dieses Licht bringt eine ganz eigene Art der Expressivität mit sich, eine, die sehr unmittelbar Bezug auf Hamburg nimmt.

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Wie würden Sie Ihre letzte Konzertsaison charakterisieren? Ist das ein „Best of“ zum Abschluss oder eher eine „eine geht noch“-Runde? Wo ist der rote Faden, oder wollten Sie gar keinen?

Alle Elemente der letzten Saison sind bereits eingeführt, auch die Idee von neuen Werken verbunden mit der Hamburger Tradition. Das ist, wenn Sie so wollen, der rote Faden. Wir feiern das Bruckner-Jahr mit seiner neunten Symphonie – zusammen mit Ligeti, einem Hamburger Komponisten. Am Ende der Spielzeit wird es eine Uraufführung geben, ein feierlicher Abschluss also. Und noch etwas: Während meiner Amtszeit haben wir vieles eingespielt, was mir wichtig war, bis auf Widmanns Werk ‚Arche‘ sind die Aufnahmen allerdings noch nicht erschienen …

… was liegt noch in der Schublade und wann kommt es?

Eine ganze Menge: ein Brahms-Sinfonien-Zyklus, sein Deutsches Requiem, Mahlers Bearbeitung von Schuberts „Der Tod und das Mädchen“. Das soll nach Möglichkeit in diesem Jahr erscheinen. Wenn alles klappt, wird das alles am Ende der nächsten Spielzeit auf CD oder im Stream zu hören sein.

„Man hört jetzt, dass das Orchester ein echtes Ensemble ist“

Wie hat sich Ihrer Meinung nach das Orchester konkret verändert? Nicht mental, charakteristisch, gefühlt oder gruppendynamisch, sondern konkret: Wo ist es jetzt anders und im Idealfall besser als vorher?

Wir wollten uns inhaltlich fokussieren. Wie spielt das Orchester, wie sind die Verbindungen untereinander? Deswegen haben wir sehr viel Wert auf unsere Kammermusik-Serien gelegt. Man hört jetzt, dass das Orchester ein echtes Ensemble ist, viel intimer und sensibler als früher, indem die Musiker sich zuhören und aufeinander beziehen. Auch das hat den Klang stark beeinflusst. Darüber hinaus gab es eine Generationsentwicklung, das Orchester ist heute personell ein anderes als vor neun Jahren.

Haben Sie für sich hier etwas gelernt, was Sie vorher noch nicht wussten?

Jede Kultur atmet auf eine gewisse Weise, verbunden mit der Sprache. Das Konzept kultureller Zeit ist ein anderes als die Zeit auf einer Armbanduhr oder das Timing eines Metronoms. Das kann große Auswirkungen auf Inhalte haben.

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Sie haben hier nicht gewohnt, aber hier Wurzeln geschlagen. Im Englischen gibt es nur ein Wort, „home“. Im Deutschen aber sowohl „Zuhause“ als auch „Heimat“. War Hamburg für Sie „Heimat“ oder ein „work place“?

Politisch korrekt würde ich wohl nicht sagen, dass Hamburg sich wie meine Heimat anfühlt. Das wäre kulturell womöglich aneignend. Schließlich bin ich kein Hamburger. Aber: Ich liebe das Wetter hier, die Farben. Außerdem gibt es wichtige musikalische Wurzeln, verbunden mit C.P.E. Bach, der Mendelssohn-Familie, Brahms, besonders mit Mahler. Ich fühle einfach, dass ich hier atmen kann.

Orchester sind keine Fußballvereine, es gibt keine Tabelle, aber trotzdem: Wo sehen Sie jetzt, nach neun Jahren, Ihr Orchester neben dem NDR und den Symphonikern? Sie können nicht alle drei auf dem ersten Platz sein.

Jedes Orchester hier hat seine eigene Identität und seine eigene Rolle. Ich kann nur für uns sprechen: Wir spielen sowohl in der Staatsoper, als auch in der Elbphilharmonie, wir tragen Hamburg im Namen, wir sind das Philharmonische Staatsorchester Hamburg und in diesem Sinne natürlich im In- und Ausland Botschafter für die Stadt.

Jetzt haben Sie sehr elegant eine Antwort vermieden.

Nein, habe ich nicht. Was ist wichtiger: ein Herz, ein Hirn oder eine Lunge?

Kent Nagano: „Tradition muss leben“

War es richtig und klug, sich komplett aus der Laeiszhalle zu verabschieden, sie den Symphonikern zu überlassen und „nur“ noch in der Elbphilharmonie Konzerte zu geben, wenn man wie Sie so stark die Tradition betont?

Das hängt davon ab, wie man Tradition definiert. Wenn man sie nur aus der Vergangenheit heraus versteht und deutet, bekommt sie schnell etwas Museales. Tradition muss leben, sonst verdient sie die Bezeichnung nicht. Es ist sehr wichtig, dass es weitergeht. Die Elbphilharmonie ist jetzt bewährt, sie ist eine Adresse von Weltrang und Teil der Hamburger Exzellenz-Tradition. Wir haben die Laeiszhalle auch nicht vernachlässigt, wir geben dort regelmäßig Kammer- und Sonderkonzerte. Es ist wichtig, dass sie in unserem aktuellen Klangkonzept bestehen bleibt, denn es handelt sich um einen wunderbaren Saal. Allerdings nicht für jedes Repertoire.

Sie haben Spezial-Formate übernommen oder neu eingeführt – die Rathauskonzerte, die Akademien. Das Neujahrskonzert hat ein Konzept-Update erhalten. Worauf sind Sie im Rückblick besonders stolz, was war das Besonderste?

Es ist unmöglich, eines zu nennen, es gab so viele Höhepunkte. Wie kann man je die Eröffnung der Elbphilharmonie vergessen? Wie kann man das Debüt in der New Yorker Carnegie Hall oder im Teatro Colón in Buenos Aires vergessen? Ich würde auch sagen, dass es noch nicht zu Ende ist, vieles in der nächsten Spielzeit wird außerordentlich stark und aufregend.

Gibt es einen Fehler, an den Sie sich erinnern?

Vielleicht war ich etwas zu langsam bei der Etablierung einer engen Bindung mit der Hochschule für Musik und Theater, etwas zu langsam auch bei Verbindungen mit Instanzen wie dem Max-Planck-Institut. Musik und Klang brauchen eben auch die Wissenschaften. Am Anfang war alles sehr neu.

„Ich kenne und schätze Omer Meir Wellbers Arbeit sehr“

Sie haben sich noch nicht zu Ihrem Nachfolger Omer Meir Wellber geäußert. Wie beurteilen Sie diese Berufung, was halten Sie von ihm?

Wir kennen einander, ich kenne und schätze seine Arbeit sehr. Wir begegnen uns als berufliche Freunde. Für die Staatsoper und auch das Orchester beginnt ein ganz neues, sicher sehr anderes Kapitel. Im Sinne der Tradition und Klangentwicklung ist das für ein Haus unglaublich wichtig.

Das war knapp an der Frage vorbei. Er ist ein ganz anderer Charakter, eine andere Generation. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung? Waren Sie überrascht? Waren Sie angenehm überrascht?

Ganz ehrlich: Es ist nicht meine Aufgabe, dazu etwas zu sagen, das ist Aufgabe der Stadt, des Orchesters, des Publikums. Das Leben besteht aus Entwicklung und Veränderung, beides ist für die Kultur und ein Haus überlebenswichtig. Das Orchester wollte unsere Partnerschaft nicht beenden, deshalb werde ich ihm als Ehrendirigent treu bleiben.

Noch eine dieser Journalistenfragen: Das hier ist Ihr neunter Chefposten: Berkeley, Ojai, Lyon, Manchester, Berlin, Los Angeles, München, Montréal, Hamburg. Auf welcher Position dieser Liste steht Hamburg?

Ich bin jetzt hier, natürlich ganz oben.

Die neue Oper? „Eher früher als später“

2025 verlassen Sie das Orchester und den GMD-Posten. In welchem Jahr wird der Grundstein für die neue Hamburger Oper gelegt?

Das ist eine große Frage. Beim letzten Mal haben Sie mich gefragt, ob ein neues Opernhaus absolut notwendig sei. Und meine Antwort war, dass man definieren müsse, was „notwendig“ bedeutet. Wenn es um Qualität und Führung geht, stellt sich die Frage: Welches Potenzial hat Qualität? Führung heißt, nicht nur an unsere Generation zu denken, sondern an zukünftige Perspektiven für unsere Kinder und Enkel. So gesehen ist es ganz organisch, dass Hamburg einmal ein anderes Opernhaus haben wird. Ich fühle diese Dynamik, übrigens genauso wie damals, als ich kam und die Elbphilharmonie und ihre Fertigstellung infrage stand. Diese Diskussion ist sehr wichtig und sehr aktuell.

Aber Sie fühlen keine Jahreszahl.

Es ist nur so ein Gefühl: eher früher als später.

Wofür soll man Sie in dieser Stadt in Erinnerung behalten?

Am liebsten natürlich mit meinem unerschütterlichen Glauben an dieses Opernhaus und das Philharmonische Orchester. Dann dafür, dass ich alles mir Mögliche getan haben, um diese beiden so traditionsbehafteten Institutionen, die Oper und das Orchester, in die Zukunft zu tragen. Und so hoffe ich natürlich, dass das einzigartige Profil, dass sich dieses Orchester in den vergangenen zehn Jahren erarbeitet hat, auch in Zukunft Bedeutung haben wird.

Weitere Informationen: www.staatsorchester-hamburg.de, www.staatsoper-hamburg.de