Hamburg. Sollten Dirigenten Diktatoren oder Freunde der Musiker sein? Ein Gespräch mit Kent Nagano und Alan Gilbert.

Der eine lässt sich vielleicht gern mit „Maes­tro“ anreden. Dem anderen genügt ein ehrfürchtig von unten emporgehauchtes „Chef“, um sich in seiner jeweiligen Wichtigkeit bestätigt zu fühlen. Dirigenten und Firmenlenker haben – trotz der fundamentalen Unterschiede ihrer Produkte und Methoden – mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick vermuten möchte. Was muss ein CEO (Chief Executive Officer) können, dass er von einem GMD (Generalmusikdirektor) lernen könnte?

Diese und einige andere Fragen stellten wir sowohl dem New Yorker Alan Gilbert , seit 2019 Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters, als auch dem Kalifornier Kent Nagano , der seit 2015 Hamburger Generalmusikdirektor ist. Gilbert befand sich in Stockholm, wo er mit seiner Familie lebt. Das Gespräch mit Nagano fand in einer Probenpause in der Elbphilharmonie statt.

„Verkappte Diktatoren, die sich glücklicherweise mit der Musik begnügen“, so hat der ebenso berühmte wie berüchtigte Sergiu Celibidache sich, seine Arbeit und seine Kollegen beschrieben. Wie würden Sie die Essenz des Dirigentenberufs erklären?

Alan Gilbert Ganz offensichtlich ist es eine Führungsposition, aber: Wenn alles funktioniert, wenn man im Flow ist und man merkt, genau so sollte die Musik klingen – dann fühlt es sich für mich nicht so an, als ob ich überhaupt führe. Es fühlt sich an, als ob alle gemeinsam führen würden. Der Kern liegt also darin, so viele Menschen wie möglich zu befähigen, selbst Initiative zu ergreifen. Es geht um Motivation. Ich habe viel mit und vor Firmenchefs darüber gesprochen, weil sie vom Dirigieren fasziniert sind. Man ist zwar der ,Anführer’ und muss die Rahmenbedingungen schaffen, aber am Ende des Tages spielen alle. Es ist wirklich wie in der Kammermusik. Alle atmen und fühlen gemeinsam. Beim Dirigieren geht es also einerseits um das eigentliche Führen, die Gesten, denen das Orchester folgt. Doch es geht ebenso um die psychologische Motivation, die auf und neben der Bühne passiert, da geht es auch um das Arbeitsumfeld und die Atmosphäre … Ein weites Feld, wir könnten Stunden darüber sprechen.

Kent Nagano Für mich geht es um Führung und Verantwortung für die künstlerische Essenz eines Ensembles. Das bezieht sich einerseits auf die Tradition, aber genauso auch auf die Zukunft. Wie man das erreicht, hängt vom Ensemble ab, von den Umständen und der jeweiligen Persönlichkeit. Als Diktator wahrgenommen zu werden wäre eine Methode. Aber wie überall, wo es um Führung geht, gibt es nicht nur einen einzigen Weg, sondern viele Möglichkeiten.

Ob Chefs und Mitarbeiter Freunde sein können, darüber kann man streiten. Können Dirigenten und Orchester Freunde sein?

Gilbert Das hat sich geändert, glaube ich. Beim früheren, diktatorischeren Modell gab es eine große Distanz zwischen den beiden Seiten. Die Menschen haben sich seitdem verändert und weiterentwickelt, und es ist möglich, die Funktion und persönliche Beziehungen voneinander zu trennen. Die jeweiligen Rollen können vorhanden sein, und man kann sie gleichwohl abseits der Bühne vergessen. Ich halte es tatsächlich für wichtig, freundlich zu den Musikern zu sein. Was nicht heißt, dass ich mit jedem Einzelnen eng befreundet bin. Es gibt auch Menschen, die sich in so einem Umgang mit dem „Boss“ nicht wohlfühlen. Aber es gibt keinen Grund, nicht befreundet zu sein.

Nagano Es ist wichtig, dass die Rollen und Funktionen in einer Organisation klar sind und respektiert werden. Freundschaft – so wünschenswert sie auch ist – kann für eine Subjektivität sorgen, die Probleme auslösen kann. Generell gesprochen: Freundschaft ist nicht unmöglich, hat aber nicht die höchste Priorität.

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  • Was ist die beste Methode, um ein Orchester bei der ersten Probe für sich zu gewinnen? Man kommt durch die Tür, und 100 Menschen sehen einen an. Wie kriegt man sie?

    Gilbert Eine sehr gute Frage, das ist für mich der wichtigste Moment, sagen wir, die erste gemeinsame Stunde. Allerdings dirigiere ich keine für mich neuen Orchester, doch so eine erste Begegnung ist schon besonders furchterregend. Ich hatte nie ein Blind Date, aber so stelle ich mir das vor. Stimmt die Chemie? Läuft es? Das merkt man fast sofort. Meine Strategie: Ich gehe das Stück durch, im Großen und Ganzen ohne Unterbrechungen. So lässt sich erkennen, wie das Orchester reagiert. Ob sie reagieren, wie ich es möchte, sie können auch mich lesen. Und dann, mittendrin, suche ich eine für mich passende Stelle aus, um daran zu arbeiten. Bei dieser Stelle muss es dann wirklich einen Unterschied machen. Man kann nicht einfach anhalten und nur sagen: „Hier bitte etwas sanfter spielen“, und das machen die Musiker dann in etwa so, und danach geht es weiter … Wenn man etwas akzeptiert, das nicht eindeutig anders ist, hat man sie verloren. Aber wenn man in einem Moment tatsächlich zeigt, dass man helfen kann, damit etwas deutlich besser klingt, und dass jeder das auch mitbekommt? Dann hat man einen Samen gesät, aus dem die Beziehung wachsen kann, eine Grundlage für Vertrauen.

    Nagano Einige Dinge schätzen alle Menschen und auch alle Musiker: Ehrlichkeit … wir können sofort spüren, wenn jemand nicht zu 100 Prozent wahr ist. Wir alle schätzen es, wenn jemand gut vorbereitet ist. Und auch, wenn wir mit Effizienz in einem bestimmten Zeitraum viel erreichen können. All das hilft dem eigentlichen Ziel, wenn man einem neuen Orchester begegnet. Generell ausgedrückt: Wir sind Musiker, wir teilen die Liebe zur Musik. Und um großartige Musik zu machen, sind diese Dinge sehr hilfreich.

    Was darf man einem Orchester NIE, NIE, NIE sagen?

    Gilbert Ich sage nie: ,Das war schlecht.‘ Das hilft nicht, und es ist unausstehlich. Man sagt seinen Kindern ja auch nicht, sie seien dumm. Keine gute Strategie. So wird Respekt sofort zerstört, das Orchester spürt, dass man es verachtet. Es gibt immer eine konstruktive Weise, etwas zu sagen, immer. „Ich würde das gern anders hören … ich würde das gern besser hören … wir machen es nicht ganz so gut, wie wir sollten … gestern fühlte sich das besser an“ … Es gibt viele Wege, um den Druck zu halten, denn ein Dirigent muss immer auch fordernd sein. Das heißt aber nicht, dass man niederträchtig sein muss.

    Nagano Dass etwas unmöglich ist. Es gibt immer eine Lösung, einen Weg nach vorn. Wenn man eingesteht, dass etwas unmöglich ist, gibt man auch zu, dass es eine Abwesenheit von Kreativität gibt.

    Wenn Sie von der Belegschaft, also: dem Tutti, absolut nicht bekommen, was Sie wollen, was ist dann effektiver: Humor, brüllen oder flüstern?

    Gilbert Kommt darauf an. Kommt auch darauf an, in welcher Beziehung zu dem jeweiligen Orchester ich stehe, bin ich irgendwo als Gastdirigent, verhalte ich mich anders als beim NDR Elbphilharmonie Orchester. Denn die Ziele unterscheiden sich, wenn es auf der einen Seite eine langfristige Beziehung gibt, die man aufbauen, entwickeln und bewahren möchte. Manchmal ist es wichtig, Zähne zu zeigen, die Enttäuschung, den Frust. Doch in den meisten Fällen ist es gut, positiv gestimmt zu bleiben. Im Laufe der Jahre habe ich viele Fehler gemacht, es gab Zeiten, in denen mir wirklich die Geduld ausging und ich Dinge sagte, die ich gern zurücknehmen würde. Oder wenn ich während des Konzerts das Gesicht verziehe, weil etwas nicht gut läuft und ich wütend werde … Das hilft einfach nicht. Die Stimmung verfinstert sich sofort, und das minimiert die musikalische Leistung, weil etwas zerstört wurde. Wenn ich andererseits Gastdirigent bin, besteht die Aufgabe darin, nach drei Probentagen ein möglichst gutes Konzert abzuliefern. Als Chefdirigent arbeite ich an Langfristigerem. Das ist nicht immer klar sichtbar, nicht für das Publikum und auch nicht für die Kritiker. Aber doch geht unter dieser Oberfläche etwas vor – das Aufbauende, die Art unserer Kommunikation, wie wir über Musik denken. Je mehr ich auf dieser Langstrecke das Orchester verstehe und je mehr sie mich dort verstehen, desto besser. Man muss verändern, wie man Dinge sagt, wie man nach etwas fragt oder etwas forciert.

    Nagano Wir gehen nicht nur einen Weg, wir gehen jeden, der möglich ist. Wenn Humor nicht hilft, versuchen wir etwas anderes. Wenn technische Analysen nicht helfen, versuchen wir etwas anderes. Als Musiker denken wir vor allem in Bildern, in Atmosphären, in humanistischen Zusammenhängen. Also versuchen wir, über Bilder oder Gefühle eine gemeinsame Sprache zu finden. Jeder Dirigent, den ich kenne und respektiere, wir alle versuchen alles, was möglich ist.

    In der Wirtschaft gibt es den schönen Spruch „Fake it ’til you make it“, mit dem viele es ziemlich weit nach oben schaffen. Wie sieht das in Ihrer Branche aus?

    Gilbert Es als Fake bis in die Spitzenliga zu schaffen, das ist sehr schwer. Orchester merken das, bevor die Öffentlichkeit etwas davon mitbekommt, sie sind sehr sensibel und haben hohe Qualitätsansprüche. Sie akzeptieren niemanden, bei dem sie spüren, dass er das nicht verdient hat. Andererseits: Dirigieren ist ein Beruf, in dem ein Fake wiederum auch ziemlich leicht ist. Ein Dirigent produziert keine Töne, oft ist nicht sehr klar, was für den Erfolg eines Orchesterklangs verantwortlich ist. Viele Orchester sagen oft: Wir können auch spielen, ohne hinzusehen; wir sorgen nur dafür, dass er oder sie gut aussieht. Bis zu einem gewissen Grad halte ich das für richtig. Wenn wir also unsere Gesten vor dem Spiegel üben und uns in etwa so bewegen, wie wir es bei Dirigenten in Videos sehen, kann man schon ziemlich weit kommen. Erst recht, wenn man dazu auch noch ein faszinierendes, attraktives Image anbietet, kann man viele reinlegen.

    Nagano Den Spruch habe ich noch nie gehört. In der Musik ist es etwas anders. Da ist es so gut wie unmöglich, etwas ganz und gar zu faken, wenn man ein Instrument spielt. Entweder man kann spielen oder nicht, es gibt einen gewissen handwerklichen Aspekt, der sich einfach nicht verbergen lässt. Andererseits: Als Dirigent spielt man bei der Arbeit kein Instrument. Man kann versuchen, etwas vorzutäuschen. Aber für jeden in einem Ensemble wird sofort klar, ob jemand wirklich kompetent und integer ist oder nicht. Meine Erfahrung in der Musikwelt ist, dass man lieber so vorbereitet wie möglich sein sollte.

    Dazu drei Zitate von Kollegen, Sie können mit Ja, Nein oder einem Kommentar reagieren. Herbert Blomstedt: „Ein Dirigent muss viel Selbstvertrauen haben. Aber wenn das Ego überhandnimmt, blockiert das das Musizieren.“

    Gilbert Ganz meine Meinung.

    Nagano Einverstanden, ja.

    Christoph von Dohnányi: „Dirigieren ist nicht schwer. Musik machen ist schwer.“

    Nagano Einverstanden.

    Gilbert Da stimme ich teilweise zu. Dirigieren finde ich schwer, Musik machen finde ich schwerer.

    Daniel Barenboim: „Für Dirigenten besteht die Schwierigkeit darin, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Notwendigkeit, Autorität zu sein und andererseits geliebt zu werden.“

    Gilbert Ich verstehe, was er meint. Ich bin mir aber nicht sicher, dass die Notwendigkeit, geliebt zu werden, für viele Dirigenten eine großer Motivation ist.

    Nagano Ich stimme zu, dass diese Balance schwierig zu finden ist. Aber normalerweise ist die Musik, die man macht, die Grundlage dieser Liebe. Es ist weniger eine persönliche Sache und hängt damit zusammen, wie man gemeinsam eine musikalische, kreative Atmosphäre schafft. Dann bezieht sich die Liebe tatsächlich auf die Musik.

    Also sind Dirigenten, die nicht unbedingt geliebt werden wollen, die besseren Chefs?

    Gilbert Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass Dirigenten gleichermaßen gemocht und respektiert werden müssen. Auf gewisse Weise müssen Orchester es genießen, in deren Gesellschaft zu sein. Doch „geliebt“ ist nicht das Wort, das ich dafür verwenden würde. Wenn man sich darüber zu viele Sorgen macht, wird es sehr schwer, seine Arbeit zu machen.

    Nagano Nicht besonders.

    Mal ganz praktisch: Dirigiert sich ein großes Orchester einfacher als ein kleines? Oder umgekehrt?

    Gilbert Ähnlich. Es sind unterschiedliche Herausforderungen, aber ich würde weder die Kategorie „schwieriger“ noch „einfacher“ dafür verwenden.

    Nagano Sie sind beide schwer. Es kommt darauf an, was für ein Ensemble es ist und was das Repertoire ist. Die Größe ist nicht besonders entscheidend.

    Ihr wichtigster Tipp fürs Führen, so von einer Kultur-Führungskraft für eine Wirtschafts-Führungskraft?

    Gilbert Die Bedeutung dessen anzuerkennen, was Menschen in der Kultur leisten.

    Nagano Dass es sehr wichtig ist, mit Klarheit und ohne Eigeninteresse vorzugehen. Wenn subjektive Elemente dazukommen, kann das für viel Verwirrung in der Kommunikation sorgen.

    Mit Ihren Referenzen und Ihrem Lebenslauf – wären Sie ein guter Firmenchef?

    Gilbert Auf jeden Fall fände ich das Leiten einer Firma sehr interessant. Ich glaube, das könnte ich. Aber es wird niemals passieren.

    Nagano Natürlich weiß ich darauf keine Antwort. Aber andererseits gibt es viele CEOs, die sehr künstlerisch und kreativ sind in ihrer Art, eine Vision zu erschaffen. Daran kann man sehen, dass Business auch eine sehr hohe Form von Kreativität ist.

    Sie würden also gern tauschen?

    Nagano Nein, ich würde nicht tauschen. Ich fühle mich durch das Leben mit Musik und Kunst unglaublich privilegiert.

    Gilbert Warum nicht? Zumindest mal zur Probe.

    Gibt es eine Wunschbranche?

    Gilbert Wenn ich das wüsste … In der letzten Zeit habe ich auch darüber nachgedacht, was ich täte, wenn ich kein Dirigent wäre. Und ich habe erkannt, dass ich mit meinen Skills genau am richtigen Platz bin.