Hamburg. In „Maestro“ verwandelt sich Bradley Cooper in Leonard Bernstein. Der Film kommt nun in die Kinos und läuft bald auf Netflix.
„Noch Fragen…?“ Leonard Bernstein, weißgraue Haare wie ein römischer Senator in einer Bibel-Verfilmung und Lesebrille, am Flügel über den Lungenkrebs-Tod seiner Frau Felicia Montealegre grübelnd und trauernd, mit dieser unbeantworteten Frage endet dieser Film nach 127 Minuten. Gute Frage… Ja, etliche.
Denn dieser Ganzkörpermusiker – Wunderkind, Verführer, Dirigent, Komponist, mitreißender Musikvermittler und brillant kluger Theorieautor, weltweit verehrt, mit einem Standbein in der Klassik und einem Musical-Spielbein am Broadway – war ein Leben lang für sich und den Rest der Welt sowohl ein weit offenes Buch als auch ein riesiges Rätsel. Maestro Jekyll und Lennie Hyde. Orchesterliebhaber im Rampenlicht und wohl auch Backstage-Arschloch, manchmal nur Sekunden danach. Egozentriker und Narzisst. Interpretationswunder und Feierbiest: Alles ging, und alles zusammen hat ihn zwischen seinen Extremen aufgerieben.
„Maestro“: Ganzkörpermusiker, Wunderkind, Dirigent, Musikvermittler
Dass Bradley Cooper, nachdem er 2018 in „A Star Is Born“ zusammen mit Lady Gaga die Kinoleinwand mit Folk-Rock-Magie betankte, sich jetzt bei seiner zweiten Regiearbeit seinen Herzenswunsch erfüllt hat und diese Jahrhundertgestalt auch leibhaftig hat spielen und zeigen und womöglich sogar in Gänze erklären wollen – Respekt. Und gleichzeitig aber auch: Schade, knapp daneben, hier und da vorbei an den zentralen Themen, Höfen, Tiefen und Abgründen.
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„Maestro“: Auch hier wurde ein Star geboren
Auch in dieser Geschichte wurde, nur zu ganz anderer Musik, ein himmlisch leuchtender Stern geboren. Als Bernstein nämlich am 14. November 1943, mit noch reichlich Restalkohol vom Vorabend, frühmorgens aus dem Bett geklingelt wurde (in „Maestro“ aus dem eines anderen): Der große, berühmte Bruno Walter war krank geworden, Bernstein, der unbekannte Assistent, 25 Jahre jung, sollte als Einspringer, ohne Probe, von jetzt auf gleich, am Abend ein Radiokonzert des New York Philharmonic in der Carnegie Hall dirigieren.
Partitur auf und durch, Sensation, Seite-1-Jubel in der „New York Times“, Bühne frei für Leonard Bernstein, den Sohn jüdischer Einwanderer und Everybody‘s Darling ab diesem Moment. Der erste All-American-Dirigent, ein Rockstar seiner Zeit, aber einer mit Opuszahlen und deutlich mehr als nur einer Handvoll Akkorde im Werkzeugkasten. Die Chance, diesen rasanten Aufstieg in den Klassik-Olymp zu zeigen und vor allem auch hörbar zu machen, verspielt der Film anfangs, weil er sich zu gern selbst beim Nachzeichnen von Lebenslinien zusieht. Und er kapituliert vor der immer übermächtiger werdenden Vielschichtigkeit des zentralen Charakters.
Die frühen Etappen in der Karriere erzählt der Regisseur Bradley Cooper mit viel, womöglich zu viel klassischem Stilempfinden für launige Hollywood-Traumpaare aus Frank-Capra-Komödien und das gute alte Melodrama-Kino. Feines Schwarz-Weiß, sehr gediegen, aber leider in der ersten Stunde auch ungeschmeidig, trotz elegant virtuoser Kamerafahrten und Szenenmontagen. Man sollte als Publikum schon vorher wissen, wer hier wer sein soll, was Tanglewood ist (das Sommercamp des Boston Symphony Orchestra) und wer die Nebencharaktere sind. Sie huschen ebenso zu kurz durch den Plot wie die Andeutungen der frühen Bernstein-Hits und -Flops, die es ja durchaus auch gab. Dass Bernsteins Ehrgeiz als Komponist noch viel größer war, als es sein Erfolg mit der „West Side Story“ lieferte, bleibt unterbelichtet.
Bei der Musik selbst hat „Maestro“ ein geradezu schmerzhaft großes Defizit
Überhaupt hat dieser Film ausgerechnet bei seinem vermeintlich zentralen Thema – der Treue zur Musik und ihrer Herzblut pumpenden Wirkung auf andere – ein geradezu schmerzhaft großes Defizit. An die gute alte „Show, don’t tell“-Regel hält sich Cooper, der schon als kleiner Junge Dirigent werden wollte und sich mit acht Jahren einen Taktstock vom Weihnachtsmann wünschte, leider nicht genug, wenn es um den Dirigenten bei seiner eigentlichsten Arbeit geht. Man kann über viel zu weite Strecken nur erahnen, wie groß und magnetisch und mitreißend das Charisma des Bühnenmagiers Bernstein gewesen sein muss; warum Orchester sich ihm buchstäblich genauso hingaben wie die nach Lust und Laune wechselnden Männerbekanntschaften während seiner Partys im Dakota Building am Westrand des Central Parks.
Aber dennoch: So viele ikonische Bernstein-Outfits werden in diesen 127 Minuten vorgeführt, bekannt von Fotos und Plattenhüllen, so liebevoll reinszeniert! Die geräumig schlackernde Nachkriegs-Mode, die Sixties, die Schlaghosen-Phase, als Bernstein mit Vollbart aussah wie ein schwuler Käpt‘n Blaubär auf dem Weg zur nächsten koksgeladenen Cruising-Runde. Diese coole Zigarettenhand-Pose! Diese Dreiwettertaft-Perücken! Diese Stimme, die im fortgeschrittenen Alter klingt wie in jahrzehntelang in Whiskey geschwenkt und danach gründlich nachgeräuchert!
Die Verwandlung von Bradley Cooper in mehrere Bernsteins ist oscarwürdig
Ursprünglich wollte Steven Spielberg, nachdem er sein Remake der „West Side Story“ realisiert hatte, dieses Biopic selber drehen, doch als er erkannt hatte, wie groß Coopers Leidenschaft für Klassik ist, überließ er ihm den Vortritt und beschränkte sich mit dem Kollegen Martin Scorsese aufs Produzieren. Bevor das Ergebnis in diesem Herbst beim Filmfestival von Venedig seine Weltpremiere erlebte, gab es kurz Aufregung über vermeintliches, antisemitisches „Jewfacing“, weil die Make-up-Prothesen-Abteilung das Gesicht des nicht jüdischen Schauspielers Cooper mit einer eher großen Nase ausgestattet hatte, die Bernstein nun mal unübersehbar hatte. Selbst Bernsteins Kinder konnten die Vorwürfe nicht nachvollziehen. Diese detailgenaue Verwandlung von Cooper in mehrere Bernsteins ist unbedingt oscarwürdig.
Das gilt umso mehr für Carey Mulligan, die andere Hälfte des Duetts in diesem Film, der durch sie zum Ehedrama wird. Sie spielt Felicia Montealegre mit unglaublicher Eindringlichkeit, immer mehr erkennend, dass sie nie mehr als die einzige Frau an Bernsteins Seite, aber nicht die einzige Liebe seines Lebens sein wird. Bei der ersten Begegnung tänzelt sie noch als blutjunge, ehrgeizige Schauspielerin daher, im Laufe der Jahrzehnte wächst sie zur Charakterdarstellerin in Bernsteins Privatleben. Ihre Eifersucht, auf die Musik und den jeweils nächsten jungen Mann auf der jeweils nächsten Party, lässt sie verzweifeln und verbittern, in Großaufnahmen erschütternd klar zu beobachten.
Je reifer der Bernstein, desto exaltierter dessen Verkörperung durch Cooper. Was nicht immer schön anzusehen ist, weil die Grenze zur tragischen Satire arg dünn ist. Da wird einerseits eine Szene präsentiert, die sich genau so auch in Bernsteins Unterrichtsstunden beim frisch gegründeten Schleswig-Holstein Musik Festival in der Salzauer Orchesterscheune abgespielt hat: Ein junges Dirigier-Talent bricht angstschweißgebadet – hier bei einer Fermate in einer Beethoven-Sinfonie – ein, und Bernstein zeigt ihm, buchstäblich aus dem Pultgott-Handgelenk, wie das geht, mal eben, wo ist das Problem? Und andererseits, direkt danach, ein randvoller alter Mann auf der Disco-Tanzfläche, unangenehm dicht dran an eben jenem Dirigier-Talent, offensichtlich mit Hintergedanken, noch jahrzehnteweit entfernt von jeder „#MeToo“-Debatte.
Musikalischer Höhepunkt des Films ist Mahlers 2. Sinfonie
Zum musikalischen Höhepunkt des Films hat Cooper sich den Schluss des Finalsatzes von Mahlers „Auferstehungs“-Sinfonie ausgesucht, ausgerechnet, viel größer besetzt geht es in dieser Preisklasse kaum. 1973 hatte Bernstein Mahlers Zweite in der Kathedrale von Ely mit dem London Symphony Orchestra aufgeführt, der Videomitschnitt davon sorgt auch ein halbes Jahrhundert später noch für Gänsehaut.
Für seine knapp zehn Minuten mit Mahler wurde Cooper nicht nur zum regelmäßigen Konzertgast des New York Philharmonic, er informierte sich auch über alles, was es dort über Bernstein zu lernen gab, studierte im Archiv Bernsteins Partituren ebenso wie dessen Taktstöcke, sprach mit der Familie, mit Zeitgenossen und Experten. „Er wollte in Bernsteins Seele vordringen“, so brachte Jaap van Zweden, der Musikdirektor des NYPhil, diesen Wissenseifer auf den Punkt.
„Maestro“: Bradley Cooper bereitete sich jahrelang auf diese Rolle vor
Coopers Vorbereitung auf die handwerklichen Aspekte dieser Rolle zog sich über fünf Jahre: Er besuchte etliche Konzerte in den USA und Berlin, ließ sich unter anderem von Gustavo Dudamel und dem Bernstein-Protegé Michael Tilson Thomas deren Welt erklären. Und er erhielt von Yannick Nézet-Séguin, dem Musikdirektor der New Yorker Met, Unterricht, um nicht bloß halbwegs unfallfrei vor der Kamera und einem echten Orchester dirigieren zu können, sondern zusätzlich genauso, wie der einmalige Bernstein es tat – groß ausholend, weltumarmend in jedem Takt, mit der Präzision eines Feldherrn alles im Griff, ungebremst leidenschaftlich.
Die knapp zehn Filmminuten als Bernsteins Bodydouble zeigen, wie sich Cooper nach diesem Stil-Coaching als Bernstein in diese riesige Musik wirft. Er übertreibt es dabei, Hollywood will immer noch Hollywood und keine authentische Meisterklasse, aber scheitert dabei auf derart hohem Niveau, dass man ihm nicht böse sein kann, zeigen diese Szenen doch auch, wie unmöglich es ist, wie auf Zuruf ein Genie in seinem Element zu verkörpern. Nachdem es vorbei ist, fällt dieser Dirigent, berauscht vor Glück und Mahler und genug Liebe, um eine mittelenglische Kathedrale damit zu wärmen, in die Arme seiner Frau. Leonard Bernstein starb am 14. Oktober 1990 im Dakota Building, zwölf Jahre nach Felicia. Er wurde mit einem seiner Taktstöcke beerdigt. Und der Partitur von Mahlers Fünfter auf dem Herzen.
„Maestro“ läuft ab dem 6. Dezember in ausgewählten Kinos (in Hamburg im Passage und im Studio) und ab dem 20. Dezember auf Netflix. Soundtrack-Album: „Maestro: Music by Leonard Bernstein“ Yannick Nézet-Séguin, Bradley Cooper, London Symphony Orchestra (DG, CD ca. 20 Euro / Vinyl ca. 50 Euro). Außerdem „The Maestro – Very Best of Bernstein“ (DG, 2 CDs, ca. 22 Euro). Bildband: „Maestro on Record“ (Sony Classical, Bildband + 12 CDs, ca. 110 Euro). Mahler „Sinfonie Nr. 2“ mit Bernstein und dem New York Philharmonic, 1987 mit Barbara Hendricks (Sopran) und Christa Ludwig (Mezzosopran) (DG, 2 LPs, limitierte Neuauflage, ca. 46 Euro)