Hamburg. Zwei buchstäblich fantastische Einakter an einem Abend: Premiere von Schönbergs „Pierrot lunaire“ und Poulencs „La voix humaine“.
Das ist also diese „Kunst“ mit dem etwas größeren K, von der bis vor Kurzem so gut wie gar nichts öffentlich zu sehen, zu hören oder zu lesen war, zumindest nicht so wie in der Zeit vor Mitte März 2020. In einem Raum mit anderen Menschen sein und vor einem passiert etwas buchstäblich Fantastisches. Man ahnt, was das jetzt wohl sein könnte und kann sich ruhig fragen, was es bis ins Detail bedeuten mag. Bringt aber spontan nichts. Im nächsten Moment taucht ja schon etwas anderes auf, unerwartet, anders rätselhaft. Durch solche Begegnungen intellektuell gefordert zu sein, fehlte in den vergangenen Monaten auf beklemmende Weise.
Zwei passende Stücke zu dieser fundamentalen Gegenwarts-Verunsicherung hat nun die Staatsoper in ihren Spielplan aufgenommen und damit aus der Not heraus einen Pluspunkt gemacht: Schönbergs wundersam verrätselten, surrealen Einakter „Pierrot lunaire“ und die gern damit kombinierte, ähnlich kurze Schlimme-Nacht-Geschichte „La voix humaine“ von Poulenc und Cocteau, in der eine liebende Frau am Ende einer Telefonleitung leidet, weil ein geliebter Mann ihr den Anschluss unter dieser ihrer Nummer verweigert, wieder und wieder.
Staatsoper: In normaleren Zeiten wären die Stücke wohl nicht im Spielplan
„An unstillbarem Liebesleid / Stirbst du, an Sehnsucht, tief erstickt,/ Du nächtig todeskranker Mond / Dort auf des Himmels schwarzem Pfühl.“ Eine der vielen stockfinsteren Textpassagen aus dem „Pierrot“, die Übersetzung eines Gedichts von Albert Giraud, die mit ihrer Verzweiflung bei Poulenc zwar nicht auftaucht, aber nachhallt. Dessen „Sie“ ruft immer wieder – wie es auch Pierrot tut, nur nicht stumm und mit den eingefrorenen Gesichtszügen eines Avatars von der Festplatte – ein nach Halt suchendes „Hallo...?!“ in den Hörer. Ist noch jemand da, der tatsächlich einen Puls hat, in diesem Dunkel? Versteht mich noch jemand? Das sind so die Fragen jetzt.
So sehr es beide Stücke verdient hätten – in normaleren Zeiten wären wohl weder der atonale Schönberg-Klassiker von 1912 noch die klasssisch-modernistische Poulenc-Rarität von 1958 in den Staatsopern-Spielplan geraten. Jetzt aber sind sie mit ihren handlichen Besetzungen einerseits bühnenorganisatorisch bestens corona-kompatibel; mindestens eines von beiden läuft auch in Berlin, Bremen und Lübeck. Sie sind aber auch höchst aktuelle Zeit-Stücke, weil sie Ausnahme- und Extremzustände beschreiben und Einzelgänger beim Trudeln zeigen. Außenseiter und verlorene Seelen, gebrochene Herzen, Stürze ins Nichts in den ganz dunklen Stunden.
Gedichte mit computergeneriertem Traum kontrastiert
Keine lineare Handlung, keine Begrenzung mehr durch Bühnentechnik oder anderer Schwerkraft-Regeln, dazu diese haltlose, im Irgendwie schwebende Musik Schönbergs – dazu passt bestens die Idee, die 21 „Pierrot“-Gedichte mit einem computergenerierten Traum zu kontrastieren und zu be-filmen, wörtlich ver-filmt wurde so gut wie nichts, warum auch. Jedes Gestaltungselement – Sprache, Theater, Musik – sollte seinen Standpunkt behalten. Der Video-Künstler Luis August Krawen hat einen bleichen Knaben-Cyborg digitalisiert, der durch seine Nerd-Brille eine fast ausgestorbene Welt sieht, angeleuchtet vom Mondlicht, im Wald, im entsternten Mercedes durch futuristische Straßenschluchten kreisend.
Schön ist auch die Szene, in der ein Schönberg-Gesichtsdouble einen Fährkahn steuert. Krawen wollte Atmosphäre vermitteln, Stimmung andeuten und eine weitere poetische Zwischendecke einziehen, auf der alles oder nichts passieren kann.
Kent Nagano stellt Sachverstand für konstruierte Klänge unter Beweis
Drei Text-Abschnitte, also: drei Frauengestalten aus verschiedenen Generationen für den melodramatischen Sprechgesang, im Halbdunkel am Rand des fast leeren Grabens, wo Generalmusikdirektor Kent Nagano seinen Sachverstand für konstruierte Klänge unter Beweis stellt. Runde eins übernimmt eine Opern-Legende, die Sopranistin Anja Silja, das Charisma überträgt sich sofort in den arg leeren Saal. Pierrot II und III sind zwei anders ausdrucksstarke Kolleginnen, Nicole Chevalier und Marie-Dominique Ryckmanns. Wäre das mit frühem Kino vergleichbar, mit einer live ergänzenden Tonspur, oder ein Konzert mit Bild-Unterstützung? Beides, und doch auch nichts davon.
Fast nahtlos folgte die nächste Episode, der Poulenc-Einakter, bei dem etwa zwei Dutzend Philharmoniker-Mitglieder und Nagano hinter einem Gaze-Vorhang auf der Bühne verschleiert wurden. Was als schmaler Streifen übrig blieb, wurde von Georges Delnon (Intendant und in diesem Fall wohl auch kostensparendes Regie-Bordmittel) mit wenigen Requisiten in einen Beziehungs-Käfig ganz ohne Gitterstäbe verwandelt.
Kerstin Averna durchlitt dort ihre Rolle, verzweifelt von links nach rechts tigernd. Man mochte es nicht mitansehen und konnte doch nicht weghören. Die kammerorchestrale Klang-Tapete von Poulenc ist deutlich gefälliger als das abstrakte Schönberg-Muster, auch hier kein Problem für Nagano. Zwei Stücke als ein Austesten von Grenzen, ein gelungenes Experiment. Wäre Crossover nicht eine so streng nach Ranschmeiße riechende Vokabel, für diesen speziellen Abend wäre sie verwendbar.
Termine: 15. / 17. / 23. / 24.10., 17. / 21.11., 19.30 Uhr. Karten T. 356868.