Salzburg. In der Inszenierung von Nicolas Stemann glänzt das Ensemble fraglos, wird aber auch vom pädagogischen Impuls des Regisseurs gebremst.
Im schweißtreibend heißen Salzburg stehen fast vier Stunden „Orestie I–IV“ an. Und Barbara Nüsse sagt als Wächter schon zu Beginn: „Ich kann nicht mehr.“ Das kann ja heiter werden. Zu lange wartet sie auf das Ende der Spirale aus Gewalt, Rache, neuer Gewalt. Aber wer hat eigentlich angefangen? Was war noch mal der Auslöser? Sicher ist nur, das Spiel aus Rachefeuer und Blutdurst geht immer weiter – nicht nur in der antiken Tragödie.
Dort aber derzeit mit Vorliebe. Auf vielen deutschsprachigen Bühnen wird gemordet und gerächt. Auch der Regisseur und ehemalige Zürcher Ko-Intendant Nicolas Stemann hat nun bei den Salzburger Festspielen seinen Antiken-Reigen abgeliefert. Ab Oktober ist die Koproduktion auch am Thalia Theater Hamburg zu erleben. Es ist ein gleichermaßen unterhaltsamer, anstrengender, auch mal zulasten des Spiels überdeutlich moralisierender Abend. Allerdings nicht mit der gesamten „Orestie“ von Aischylos, der ältesten überlieferten Dramentrilogie, sondern beginnend mit deren „Agamemnon“, dann überleitend in die sprachlich und inhaltlich deutlich modernere „Elektra“ des Sophokles, an die sich wiederum die „Eumeniden“ des Aischylos anschließen. Den Schlusspunkt setzt „Orestes“ von Euripides als Satyrspiel. Das alles von Stemann selbst in einer Stückfassung destilliert.
Thalia mit Premiere in Salzburg: Modernes Jeans-Blau im antiken Setting
Die nahezu leere Bühne von Katrin Nottrodt enthält nur ein paar Tische, viel Videotechnik, eine dreiköpfige Band und eine fahrbare Treppe. Zwei gigantische Transparente an den Seiten färben sich bald blutrot. Das Ensemble tritt – von Sophie Reble in einer Mischung aus modernem Jeans-Blau und Antike-Fototapeten kostümiert – zunächst als Chor der Bürger von Mykene auf. Der Stoff materialisiert sich in postdramatischen Versatzstücken aus den Spielenden selbst, wird allerdings erstaunlich „werkgetreu“ präsentiert.
Sebastian Rudolph kehrt als siegreicher Feldherr Agamemnon aus Troja zurück und wird von seiner Frau Klytaimnestra (Patrycia Ziólkowska) getötet – Rache für seinen politisch motivierten Opfermord an der gemeinsamen Tochter Iphigenie. Woraufhin Sebastian Zimmlers sensibel gezeichneter Orest mit dem Segen seiner Schwester Elektra (kämpferisch: Julia Riedler) wiederum die Mutter mit dem Beil erschlägt. Dazu werden allerlei Kriegsansichten an die Rückwand der Fabrikhalle gekleistert. Die meisten von ihnen erinnern an die grauen Steinwüsten von Gaza.
Der zweite „Elektra“-Teil arbeitet stark mit Video-Einsatz. Die Spielenden halten ihre Monologe in kleinen Hinterbühnen wie in einem Setzkasten, begegnen einander in einer verstörenden Szene sogar als Avatare. Manches Mal überlagert die Bild- die Text-Ebene, erschlägt sie beinahe. „Ihr tut so, als wäre jetzt alles gut“, klagt die immer beeindruckende Barbara Nüsse. Doch auch wenn die Waschmaschine am Bühnenrand die Atriden-Schmutzwäsche im Hoffen auf Unschuld schleudert, nichts ist gut. Es herrschen weiter Chaos und Gewalt.
Thalia Theater bei den Salzburger Festspielen: hollywoodreifes Happy End
Mit einem Menschengericht unter dem Vorsitz der Athene (Patrycia Ziólkowska), das über den Anstiftergott Apoll und Orest urteilen soll, soll es endlich anders werden.
Stemann wirft mit den Dichtern der Antike die richtigen Fragen zur Demokratie auf, deren Grundlage Aischylos legte, indem er die göttlichen Gesetze durch einen klassischen Rechtsstaat ablöste. Doch während bei Aischylos die alte Götterordnung als „Traum“ siegt, schreibt Euripides 50 Jahre später ein bitteres, desillusionierendes Ende. Ein Ende, in dem Orest (und Elektra) nicht begnadigt werden und eine neue Intrige beginnt. Diese mündet wiederum nach einer wirklich entfesselt spielfreudigen Szene, in der Riedlers Elektra im pinken Minikleid Barbara Nüsses erfrischend ganovenhaften Pylades küsst und Helena (wiederum die tolle Patrycia Ziólkowska) ihre Unschuld an all dem Chaos erklärt, in ein fast hollywoodreifes Happy End. Wobei Intrigen aber deutlich machen, dass das Elend weitergeht.
„Orestie I–IV“ von Salzburg: Ein bisschen zu belehrend
Stemanns Inszenierung ist das Bemühen anzumerken, die komplexen Texte verständlich herunterzubrechen, weshalb man sich manches Mal die Sprachkunst eines Roland Schimmelpfennig herbeisehnt, der den „Anthropolis“-Stoff am Schauspielhaus so kunstvoll ins Heute übertragen hat, seinem Publikum aber auch etwas zutraut.
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Formal bemüht Stemann sich um Modernität, mit einer schrillen Talkshow-Szene („Menschen bei Aischberger“), einer Video-Call-Begegnung von Orest und Elektra und der Partizipation des Publikums als Geschworene. Richtig interessant wird es da, wo die Gefährdung der Demokratie durch die Manipulation einzelner, mächtiger Akteure der neoliberalen Konsumgesellschaft aufgezeigt wird.
Doch die Versuche Stemanns, zu erklären, zu belehren und zu mahnen, bremsen das fantastische, tadellos aufspielende Ensemble allzu oft aus. Dass das Ende versandet, kann dann auch ein schlageresk mit Blondperücke und Glitzerhose aufgemachter Sebastian Rudolph als von den Menschen genervter Deus ex Machina (Apoll) nicht verhindern.
Orestie I–IV bis 15.8., Salzburger Festspiele, Pernerinsel Hallein, Karten unter www.salzburgerfestspiele.at; Hamburger Premiere 30.10., 18.30 Uhr, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter T. 32 81 44 44; www.Thalia-theater.de