Hamburg. Gewalt, Ekstase, Alkohol: Der Auftakt zu Karin Beiers aufwendiger Theaterserie gerät hochprozentig – und ist der ideale Cliffhanger.
Am Schauspielhaus darf man sich die Premieren schöntrinken. Ein gewisses Leitmotiv ist jedenfalls erkennbar: Schon zur Saisonvorschau hatte es Ouzo für die Journalisten gegeben, nun steht da griechischer Wein für das Publikum an den Garderoben und eine Art Sangria, mit Obstschnitz. Bloß keine falsche Scheu: „Sie können sich jetzt richtig die Birne zuknallen“, ermuntert die Schauspielerin Lina Beckmann die Zuschauerinnen und Zuschauer zur ersten Pause. Soll schließlich Dionysos gefeiert werden, Gott des Weines, der Illusion, der Verkleidung, des Wahnsinns. Gott der Ekstase!
Seit fast zwei Jahren hatte Karin Beier ihre aufwendige Antiken-Theaterserie „Anthropolis“ bis zur Erschöpfung vorbereitet, in der sie nicht weniger als die menschliche Zivilisationsgeschichte erzählt, nach Euripides, Aischylos und Sophokles, ergänzt um die Gegenwartsstimme des Dramatikers Roland Schimmelpfennig. Die griechischen Mythen um die Gründung der Stadt Theben in fünf Episoden, alle von ihr selbst inszeniert. Theater nach Netflix-Vorbild: Im November, wenn alle Folgen ihre Premiere gefeiert haben, beginnen die Binge-Watching-Wochenenden, fünf Teile hintereinander weg. Verkleidung, Wahnsinn, Überschwang – nicht nur im Inhalt, auch in der Form.
Schauspielhaus-Premiere: Hier knallt nicht bloß der Fusel, hier knallt auch alles andere
Und schon der Auftakt gerät hochprozentig. Hier knallt nicht bloß der Fusel, hier knallt bald auch alles andere, die Brutalität der Menschen und Götter, die Unersättlichkeit, und nicht zuletzt: die gesamte Theaterklaviatur. Da wirkt der halbstündige Prolog, der das ganze mit ein paar Zikaden und dem elegischen Ton von Michael Wittenborn anstimmt, wie ein gemeiner Unterwältigungsbluff: „’N Abend. Vor Ihrem geistigen Auge erscheint das Meer ...“
„Ist doch kranker Scheiß!“, ereifert sich Lina Beckmann über die einigermaßen absurde Story: die vom göttlichen Stier geraubte Europa, die ausgesäten Drachenzähne, aus denen Krieger erwachsen. Die Tochter des Theben-Gründers Kadmos, die sich von einem Durchreisenden hat schwängern lassen. Und wie ist Dionysos schließlich geboren? Indem Papa Zeus ihn im eigenen Oberschenkel ausgetragen hat?!
Wenn das einer ernst nehmen soll, muss Irritation her, muss die Fallhöhe krass hochgeschraubt werden. Und Regisseurin Karin Beier nimmt Anschwung in die unerwartete Richtung, vom Oberschenkel zum Schenkelklopfer: Das Hamburger Publikum, auf griechische Tragödie eingestellt, kann sein Glück kaum fassen, als Lina Beckmann da erst einmal eine krachend komische Solonummer hinlegt. Eine hemmungslos groteske Weinprobe, die aufs Allerprallste entgleist (und im Übrigen daran erinnert, warum man am Theater niemals nie in der ersten Parkettreihe sitzen sollte).
Schauspielhaus: Beduselt von Clownerie und Pausenwein taumelt man kichernd in den Abgrund
Derart beduselt von Clownerie (und Pausenwein) taumelt man kichernd in den Abgrund. Maßlosigkeit ist die Klammer dieses Abends, der den Kampf zwischen Chaos und Ordnung abbildet, zwischen ungezügelter Raserei und vermeintlicher Vernunft. Die verkörpert Kristof Van Boven als Thebens Machthaber Pentheus hoch zu Ross – er trabt tatsächlich auf einem echten Schimmel über die enorme Schauspielhaus-Tiefe, was seine Wirkung nicht verfehlt.
„Das Wort ,Stadt’ ist nichts als ein anderes Wort für ,Zerstörung’“, heißt es bald. Mahnend bleibt der riesige Kuhkadaver während der gesamten Vorstellung auf der von Johannes Schütz eingerichteten Bühne liegen; zur Stadtgründung war das Tier – so wollte es die Prophezeiung – zu Tode gehetzt worden. Doch Pentheus will die Ausschweifungen unterbinden, er stellt sich gegen den Zeus-Sohn Dionysos und dessen Anhängerinnen. Das hätte er mal lieber bleiben lassen: „Wer im Wahnsinn den Gott der Natur beleidigt, der wird dafür bestraft.“
Schauspielhaus nach Klimademo: Im Theater kann man sich Nachschlag holen
In Hamburg konnte man am Freitag tatsächlich direkt von der „Fridays for Future“-Klimademo in die Schauspielhaus-Premiere wechseln. Für diese Dramaturgie war Karin Beier nicht verantwortlich, präziser allerdings hätte man den Gegenwartsbezug kaum koordinieren können. Wem die realen Nachrichten nicht reichen, der kann sich im Theater Nachschlag holen: Die menschliche Überheblichkeit wird hier wie dort erbarmungslos gerächt, die Natur schlägt grausam zurück.
Auf der Bühne ist es Dionysos (Carlo Ljubek), der Pentheus’ Mutter Agaue derart die Sinne vernebelt, dass sie schließlich den eigenen Sohn niedermetzelt. Zwanzig Schlagwerker unter der musikalischen Leitung von Jörg Gollasch symbolisieren diesen Gewaltexzess mit ihren durchdringenden Taiko-Trommeln, sodass einem die Energie und die Klangwucht direkt in die Eingeweide fahren.
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Überhaupt ist „Dionysos“ ein Abend, der alle Sinne bespielt, man schmeckt den Rausch, riecht die feuchte Erde, ergibt sich dem Lärm. Die grausigsten Bilder aber muss die Fantasie besorgen. Mehmet Ateşçi übernimmt die Schilderung der unermesslichen Brutalität – während Kadmos (Ernst Stötzner) den Leichnam seines Enkels in Plastikeimern portionsweise nach Hause trägt und die wieder einmal umwerfende Lina Beckmann als blut- und rotzverschmiert wankende Agaue kaum weiter entfernt sein könnte von ihrem übermütigen Eröffnungsauftritt.
Und das alles ist erst der Anfang.
Schon in zwei Wochen geht die Theaterserie „Anthropolis“ weiter, mit „Laios“, Vater des Ödipus, einem Solo der anscheinend unerschöpflichen Lina Beckmann. Und der Cliffhanger, den jede Serie braucht, damit das Begehren getriggert wird? Ist die effektreiche und heftig bejubelte Auftakt-Inszenierung selbst. Dionysos, Gott der Ekstase, dürfte ganz zufrieden sein.
„Prolog/Dionysos“ läuft wieder am So 17.9., 16 Uhr, und So 24.9., 19.30 Uhr. „Laios“ feiert Uraufführung am 29.9., 19.30 Uhr. Weitere Termine, auch für die Marathon-Wochenenden unter www.schauspielhaus.de/anthropolis