Der Erfolgsregisseur lädt zur „Kommune der Wahrheit“ ins Thalia

Hamburg. Nicolas Stemann ist eigentlich der Regisseur der jüngeren Generation, den im Moment alle umarmen, die Kritik, das Publikum. Und das nicht erst, seit er 2011 im Thalia Theater einen furiosen „Faust“-Marathon hinlegte. Jetzt könnte er den nächsten Klassiker aufführen. Vielleicht „Wallenstein“ mit drei Leuten im Chor wie die glorreichen „Räuber“. Oder wieder einen monströsen Wortsteinbruch von Elfriede Jelinek. Eine weitere Collage, in der er unerschrocken mit Musik, Video und Elementen der Unterhaltungskultur jongliert. Alle Wagnisse, die der Regisseur anpackte, gingen bislang auf.

Doch genau das will er nicht. Stattdessen verkündete er, vorläufig keine Klassiker mehr inszenieren, sondern mit neuen Formaten experimentieren zu wollen. Bislang bewahrt er sich damit seine unangestrengte Lässigkeit, Ausdruck der Freiheit, nicht als „Marke“ zu erstarren. Marken, die sich nicht bewegen, sterben, heißt es. „Es ist einfach, sich zu wiederholen, wenn man etwas gefunden hat, das funktioniert“, so Stemann. „Aber ich möchte mich weiter selbst fordern.“ Das hat er getan mit unkonventionellen Konzert- und Talkshowformaten in Berlin und Köln in bewusst kleinen Räumen.

Im Thalia Theater probt er derzeit eine besondere Wohnform. Die „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ nistet sich von Sonnabend bis Dienstag im gesamten Haus ein. Überall im Theater auf allen Bühnen und in allen Foyers verteilt sind kleine Stationen aufgebaut. Ein Trimmrad wartet mit Silberfolie überklebt auf Bewegungswillige. Eine „Nachrichtendusche“ lädt zum Bad in geballter Information. Überall Kabel und Bildschirme.

„Es geht um die Frage: Was wissen wir von der Welt und woher und was machen wir damit?“, so Stemann. „Wie gehen wir mit der Überfülle von Information um?“ Dabei schwebt ihm und seinem Team, unter anderem die Schauspieler Sebastian Rudolph, Barbara Nüsse und Jörg Pohl, keine Medienkritik vor. Nicht die Frage, ob man Bildern etwa aus Syrien glauben darf, was Wahrheit ist, was Lüge. Im Fokus steht der Umgang mit der Überfülle. Blockt man ab und schaut zynisch weg oder lässt man das ungefiltert durchs eigene Selbst hindurchfließen. Und was dann? Nackte Verzweiflung? „Das macht einen komplett fertig. Wir haben das in unsere Körper geholt, wo es auch unerlöst hängen blieb. Das haben wir in Wien ausagiert“, so Stemann.

Die Wiener Festwochen waren die erste öffentliche Station der Wirklichkeitsmaschine nach sogenannten „Try outs“ in Leipzig, Wandsbek, Altona. Dort hinterließ es überwiegend Irritation. „Das hatte die Form einer konventionell gerahmten Theatervorstellung, was dem Projekt nicht wirklich gerecht wurde“, übt Stemann Selbstkritik. Hier nun ist das Theater geschlossen. Die Maschine wird im gesamten Haus installiert. In einem Mix aus Objekten, Installationen, Szenen, Texten, Manifesten, Liedern, Gedichten und Tagesgeschehen. Die Kommunarden beschäftigen sich mit den tagesaktuellen Nachrichten, jagen sie in die Luft, wirbeln sie durcheinander, transformieren sie in Energie und schicken diese zurück in der Wirklichkeit, in der Hoffnung, die dort herrschende Lähmung und Statik in Bewegung umzumünzen. So weit das ehrgeizige Ziel.

„Es wird natürlich auch eine Art Resümee geben, wo die Frage gestellt wird, ob das Ganze eigentlich stattgefunden hat“, so Stemann. „Ich bin an einem Punkt, wo ich das tatsächlich nicht mehr weiß.“ Hierzu sind hochkarätige Gäste geladen, wie die Autoren Friedrich von Borries und Jens-Uwe Fischer und Christoph Menge, sowie die Regisseurin Angela Richter.

Stemann, der seine Arbeit immer auch als eine gesellschaftliche begreift, versucht nicht über Fakten zu räsonieren, denn das helfe nur bedingt weiter. Man muss also nicht Boris Groys’ Auslassungen über den „transmedialen Verdacht“ gelesen haben, um hier mit Gewinn teilzunehmen. Ihm geht es auch darum, den Mut zu haben, zu träumen, intuitiv und spielerisch zu sein. Und darin ist er wie in allem radikal.

Die „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ macht Sinn im aktuellen Kontext des Nicolas Stemann. „Wenn ein Schlachtenmaler plötzlich nur drei Striche macht, ist das auch eine bewusste Entscheidung, da kann keiner sagen, das ist aber wenig“, findet der Regisseur. „Ich möchte in Bewegung bleiben und Dinge tun, auf die ich Lust habe.“ Im Augenblick bastelt er an einer Utopie, die etwa so lautet: Füge hinzu, was Du noch nicht über die Welt weißt, gestalte das, was Du gesammelt hast nicht nur sinnvoll, sondern schön. Bringe es zurück in die Welt und sie wird ein besserer Ort werden. Wenn es doch dafür tatsächlich eine Maschine gäbe.

„Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine" Premiere Sa 14.9., 20.01 (Voraufführung Fr 13.9., 20.01), 15. bis 17.9., jew. 19.01, Thalia Theater, Alstertor; www.thalia-theater.de