Kaltenkirchen. Die Saxofonistin Asya Fateyeva und das Ensemble Lautten Compagney verbinden ABBA-Songs in Kaltenkirchen mit Barockmusik. Kann das gutgehen?
Da stimmt doch was nicht. Dieser Rhythmus marschiert so gleichbleibend, das passt doch nicht zum Klang der alten Instrumente. Die hellen, leicht scharfen Töne von Harfe, Barockgitarre, Cembalo senden einfach eine andere Botschaft, sie locken das Ohr gewissermaßen in eine andere Spur, verlangen nach kleinen Unregelmäßigkeiten in der Betonung. Aber nichts davon. Und dann breitet sich eine Klangwolke aus, als würde ein Jazzmusiker auf einem Becken wirbeln. Wo sind wir hier eigentlich?
Rein topografisch sind wir in Kaltenkirchen, im Holsteinischen, weit weg von Elbe, Elbphilharmonie und Großstadtgewühl. Die Saxofonistin Asya Fateyeva, dieses Jahr Porträtkünstlerin beim Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF), ist mit der Lautten Compagney zu Gast in der Michaeliskirche. Man fühlt sich der Nordsee näher, wenn man die kopfsteingepflasterte kleine Straße entlang auf den mittelalterlichen Rundturm zuläuft. Der weite Vorplatz und die hellen Feldsteine strahlen abendliche Ruhe aus.
SHMF: Ob ABBA oder Barockmusik: Fateyeva könnte auch auf einem Gartenschlauch spielen
In Kaltenkirchen lässt sich die Grundidee des Festivals besichtigen, wie sie vor gut und gerne 40 Jahren Aufsehen erregte: die Musik in die Scheunen, Gutshäuser und Dorfkirchen zu bringen, zu den Menschen. Dazu gehört, dass vor Ort sogenannte Beiräte ehrenamtlich mitmachen. In Kaltenkirchen schenken die Beteiligten Wein aus und finden noch Zeit für einen kurzen Schwatz. Akkurat gemäht sind die Rasenflächen um Kirche und Gemeindehaus. Die Margeriten und Anemonen, die Spieren und der Blauweiderich für die Sträußchen auf den weißen Partytischen stammen aus den Beeten rund um die Kirche. In dem heckengesäumten Paradiesgarten liegt eine Besucherin auf einer der weißen Bänke mit den dicken bunten Kissen, den Blick in die Bäume gerichtet.
Drinnen aber, in dem kleinen Kirchenraum, brennt bald die Luft. Zu besagtem Beckenwirbel kichern schon einige, weil sie den Stilmix erkennen – und dann kommt die erste einer Reihe von Frechheiten, die dieses Konzert so besonders machen: Die Sopranblockflöte spielt in hoher Lage einen Moll-Dreiklang über eine Oktave, einmal rauf und wieder runter. Sofort wissen alle, das ist ABBA. Dafür sind sie gekommen. „Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)“ ist das, einer dieser ikonischen Songs aus den späten 70er-Jahren der weltberühmten und atemberaubend erfolgreichen Popgruppe. Nach wenigen Sekunden haben die Lautten Compagney und ihr Leiter Wolfgang Katschner das Publikum am Haken. Es grooven die Beats in Kontrabass und den üppig besetzten Zupfinstrumenten. Die Kirchenbänke transportieren den Rhythmus wippender Füße und Beine. Die Menschen, überwiegend müssen sie auch zu den aktiven Zeiten von ABBA schon erwachsen gewesen sein, sind spürbar im Hier und Jetzt.
Schleswig-Holstein Musik Festival: Bo Wiget findet für jeden ABBA-Song eine eigene Klangwelt
„Dancing Queen“ nennt sich das Programm – was eindeutig auf ABBA verweist und kein bisschen auf den zweiten Komponisten. Das ist nämlich der Franzose Jean-Philippe Rameau, ein Komponist der feudalen französischen Barockzeit, von Ludwig XV. in den Adelsstand erhoben. Rameaus Tonsprache war unangepasst und befeuerte seinerzeit hitzige Debatten. Heutige Ohren nehmen erst einmal das spezifisch Höfisch-Französische an ihr wahr, die Raffinesse der musikalischen Bewegung, den Reichtum der Ornamentik.
Auf die Idee, die beiden Welten zu verbinden, muss man erst einmal kommen. Der Mann dahinter ist der Ensemblecellist Bo Wiget. Er hat das Synthesizer-Motiv dahin zurückgebracht, von wo es klanglich stammt, und macht den Hörern bewusst: Na klar ist der Sound von der Blockflöte entlehnt!
SHMF: Aha-Erlebnisse gibt es so einige bei diesem Konzert
Von solchen Aha-Erlebnissen gibt es viele bei diesem Konzert. Wiget findet für jeden Song eine andere Klangwelt, vom dramatischen Cello-Tremolo am Anfang von „Take a chance on me“ bis zu dem Choral in „Lay all your love on me“. Die Bearbeitung zeigt erst, wie komplex die Kompositionen von Benny Andersson und Björn Ulvaeus im Untergrund sind. Kunstvoll verschmilzt Wiget die Musik mit den Tanzrhythmen und den eigenwilligen Harmonien Rameaus zu einem großen Ganzen.
Fateyeva hat aus dem beschränkten Saxofon-Repertoire eine Tugend gemacht. Mit bahnbrechendem Erfolg
Strahlender Mittelpunkt ist natürlich Fateyeva in sommerlichem Sonnenblumengelb mit ihren goldfarbenen Instrumenten. „Moin!“, spricht sie das Publikum an, in fließendem Deutsch mit ganz leichtem Akzent. Fateyeva ist auf der Krim geboren, aber schon vor rund 20 Jahren nach Deutschland gekommen. Von Hamburg aus hat sie ihre beeindruckende Karriere aufgebaut, bis heute lebt sie in der Gegend.
Die Saxofonistin hat es fertiggebracht, aus einem Startnachteil ein Alleinstellungsmerkmal zu machen. Das klassische Repertoire für ihr Instrument ist denkbar schmal. Was auch damit zusammenhängt, dass Adolphe Sax seine Erfindung erst Mitte des 19. Jahrhunderts gemacht hat. Was also tun? Fateyeva wildert nur zu gerne anderswo, gerade auch in früheren Epochen. Wie in diesem Konzert zu hören ist; Rameau starb schließlich schon rund ein Jahrhundert, bevor das Saxofon in die Welt kam.
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SHMF: Ein Popkonzert, stürmisch gefeiert und mit Tiefgang
Für Fateyevas bahnbrechenden Erfolg ist ihre programmatische Kreativität aber nur die Vorbedingung. Im Wesentlichen verdankt er sich dem, was sie zu sagen hat. Fateyeva könnte man einen Gartenschlauch in die Hand drücken, und es würde feinste Musik herauskommen. Wie sie die Töne an- und abschwellen lässt, wie sie schmerz-lustvoll die Dissonanzen aushält, wie sie den Klang ihres Instruments in immer neuen Nuancen der menschlichen Stimme anverwandelt, das ist hörbar stilkundig und vom ersten Moment an tief berührend.
Musik hat kein Alter. Wenn sie zu uns spricht, ist sie pure Gegenwart. „Dancing Queen“ ist ein Plädoyer dafür, wie man es sich beglückender nicht wünschen könnte. Ein Popkonzert, stürmisch gefeiert und mit Tiefgang. Draußen ist es ganz still, am Himmel zeigen sich noch letzte blassblaue Streifen. Das Erlebnis aber wirkt weiter. Auf dem Rückweg in die Stadt und lange danach.
„Dancing Queen“ wird an diesem Freitag um 19.30 in der Petruskirche Kiel wiederholt. Das Konzert ist ausverkauft; die Kartenzentrale ist derzeit telefonisch nicht erreichbar. Warteliste unter www.shmf.de/de/programm