Hamburg. Taylor Swift kommt nach Hamburg? Am Geburtstag des eigenen Kindes? Die Chance auf ein unvergessliches Erlebnis. Ein subjektiver Bericht.
Prolog:
Zugegeben, ich bin schlecht vorbereitet auf Taylor Swift. Kein Armband mit einem ihrer dem Hörensagen nach ungefähr und mindestens 158 Superhits, kein Videomaterial bisheriger „Eras““-Auftritte, von Auswendiglernen der gängigsten Songs ganz zu schweigen.
Gut, zumindest die allgemeinbildende Swift-Doku eines großen Streamingdienstes durfte es vor den beiden Konzerten in Hamburg dann doch sein, aber ansonsten habe ich mich tatsächlich wenig bis gar nicht über das wie man so hört größte Popphänomen unserer Zeit informiert. Weil es mich zunächst schlicht nicht tangiert und somit nicht interessiert hat. Bis, ja bis da vor Jahresfrist diese Ankündigung des Hamburg-Konzerts ausgerechnet für den Geburtstag meiner pubertierenden Tochter kam, diese mich dezent auf jene schicksalhafte Terminierung hinwies, es mich als gütiger Vater folgerichtig einfach zu interessieren hatte und mich zum Vorverkaufsstart bangend vor Computer und Handy sitzen ließ.
Dennoch blieb ein ausgeprägter Unwille zur Vorabrecherche über die 34 Jahre alte Singer-Songwriterin aus Reading, Pennsylvania, deren Eltern Andrea Gardner Finlay und Scott Kingsley Swift einst eine Baumschule für Weihnachtsbäume unterhielten (okay, so viel Wikipedia muss sein). Allerdings dient der an sich sträfliche Bruch mit einem journalistischen Prinzip der Maxime, möglichst unvoreingenommen das Konzertgeschehen über mich ergehen zu lassen. Nein, das klingt jetzt auch eher fies – schreibe ich lieber mal „ganz neutral zu verfolgen“. Die folgenden Zeilen dienen folglich weniger einer Zurschaustellung einer Swift-Expertise als viel mehr einer Bauchgefühlerlebnisberichterstattung – von einem Vater, der durch seine Tochter zurück in die popkulturelle Zukunft befördert wurde.
Taylor Swift in Hamburg: Lektionen für Anfänger
Während meine heranwachsende Tochter, ihre gleichaltrige Freundin und ich also die nächste Regenpause abpassen, um einigermaßen trocken auf dem Fahrrad (der Veranstalter legt schließlich eine unmotorisierte Anreise ans Herz, aber zum puncto Nachhaltigkeit später mehr) in den Volkspark zu gelangen, vertreibe ich mir die Wartezeit mit der Google-Eingabe „Taylor Swift Rain“. Und tatsächlich: Die Hit-Maschine hat auch einen Song mit dem Titel „Midnight Rain“ im Repertoire. Ob sie diesen spielen wird, wobei das Konzert gemäß der Was-weiß-ich-wie-vielten-Veranstalter-Info allerspätestens um 23 Uhr Geschichte sein soll? Spoiler: nein. Dass sich Swifties bereits vorab mit der kompletten Setlist des Abends vertraut machen können (die obligatorischen drei Überraschungssongs zum Finale ausgenommen), soll ich erst später lernen.
Doch auch dem eigenen Nachwuchs wird eine erste Lektion erteilt: Schon bei den Swifties im weiteren Stadionumfeld – ob weiblich oder männlich – dominieren Glitzer, Kleid und Cowboystiefel. Während daher bei meiner Tochter und ihrer Freundin die Sorge vorherrscht, trotz der selbst kreierten Swift-Shirts „totally underdressed“ rüberzukommen, treibt mich die Suche nach dem passenden Eingang, dem korrekten Übertrag der Digitaltickets und das Rätsel des zugewiesenen Blocks um. Letzteres wird schließlich von Kurzzeitsitznachbarn gelöst, die höflich darauf hinweisen, dass sich unsere Plätze nun doch in einem anderen Bereich befinden müssten. Nun gut, die Ausschilderung im Volksparkstadion empfand ich schon immer unter ihren Möglichkeiten. Frei nach Michael Schanze: Und wenn ihr richtig sitzt, seht ihr, wenn das Licht aufblitzt.
Apropos Outfit: Nachdem der etwa zwölfunddreißigste Travis Kelce an uns vorübergeht (wie sich der Nachname des Football spielenden Swift-Lovers ausspricht, bringe ich übrigens auch nach Konzertschluss und trotz zahlreicher US-Fans um uns herum noch immer nicht über die Lippen; und Travis kannte ich bis dato nur von Youngtimern wie „Why does it always rain on me?“ oder „Sing“), fühle ich mich mit meinem alten und übergroßen Chicago-Cubs-Baseball-Jersey nicht mehr gar so verkleidet bis lächerlich. Ein bisschen Amerikanisierung muss ja dann doch sein – ein jeder Möchtegern-Swiftie prostituiert sich schließlich, so gut er kann und wenn schon, denn schon. Outfit-Sorgen hat Taylor Swift unterdessen keine: Für das wechselhafte Wetter hält die Kostüm-Entourage ausreichend Wechselgarderobe bereit.
Bei „Shake it off“ werden Handy-Prinzipien gebrochen
„Why Does It Always Rain On Me?“ und „Sing“ haben übrigens wohl nicht von ungefähr meine Synapsen durchquert, denke ich angesichts der Regenmassen, die unerbittlich aus den Hamburger Gewitterwolken auf den Innenraum des Volksparkstadions niederplattern und auch bei der (allerdings darüber beneidenswert nonchalanten und wie auch die ihr am nächsten stehenden Fans unbeeindruckt tanzenden) GOAT keinen Unterschied machen – Erinnerungen an mein erstes Regen-Open-Air 1992 von Guns N‘ Roses werden wach. Und natürlich angesichts des Überhits „Shake It Off“, der seit dem Soundtrack des animierten Kino-Neoklassikers „Sing“ (2016) endgültig die Herzen Abermillionen Swifties durchschüttelt.
„Papa, das MUSST du filmen“, gibt mir meine Tochter vor den anstehenden drei Minuten und 39 Sekunden auf den Weg. Damit sie selbst ihr Smartphone Handy sein lassen und zu ihrem Lieblingssong unbeschwert abshaken kann. Klar doch! Hamburg, 19 Grad, Taylor Swift im Regen – der Handy-Akku hält (auch auf ausreichenden Ladezustand wurde im Vorfeld freundlicherweise mehrfach hingewiesen). Überhaupt Mobiltelefon: Da mahnt der 14 Lenze zählende Nachwuchs irgendwann im zweiten Setlistdrittel doch glatt seinen alten Herrn an, jetzt endlich mal das Digitalgerät beiseitezulegen, um das Konzert zu genießen. Touché! Wer erklärt ihr jetzt das Smartphone-Paradoxon aus elterlichem „Jetzt ist aber mal gut mit Bildschirmzeit“-Zeigefinger versus „Ohne Handynotizen kann ich mir aber nicht alle Gedanken merken, die ich gerne in einer Art Konzertkritik niederschreiben möchte“? Verrückte, durchgeschüttelte Welt.
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Mit dem temporären Handyverzicht fügt sich meine Tochter im Übrigen einem offenkundig zumindest an diesem Abend zu Tage (!) tretenden Zeitgeist. Denn wohltuend ist der vergleichsweise moderate Einsatz des Smartphones (dem freilich nicht absolut entsagt wird, aber ich hätte es mir weitaus schlimmer vorgestellt), der gleichwohl durch DAS Swift-Gimmick schlechthin (für Jung-Swifties: Gimmick, das waren zumeist technisch-spaßige Beigaben eines dem Steinzeitalter entsprungenen Jugend-Comic-Magazins) befördert wird: Ein kostenlos nach dem Einlass ausgegebenes Armband, das durch ferne Mächte gesteuert jeweils passend zu Taylors (ja, wir sind inzwischen längst „per Du“) Liedgut an 50.000 Handgelenken synchron in den buntesten Farben leuchtet und zumindest schon mal die Handytaschenlampe obsolet macht. Tolle Bilder, ma‘ sagn! Ohne gleichzeitig so richtig aus meiner Haut zu können und an den ökologischen Fußabdruck der millionenfach verteilten Plastikteile „made in China“ denken zu müssen.
Taylor Swift: Und was ist mit der Nachhaltigkeit?
Mit der Nachhaltigkeit scheint es die Swift (dieser Umstand lässt mich vorübergehend doch wieder ins „Sie“ zurückfallen) im Gegensatz zu dem ausdrücklich unterstützenswerten Einstehen der LGBTQIA+-Rechte ohnehin zumindest nicht so genau zu nehmen wie beispielsweise Chris Martin und seine Band Coldplay, die mit ihren Stadionkonzerten inklusive der Ausgabe wiederverwertbarer Becher und Teller ein möglichst klimaneutrales Erlebnis gewährleisten möchten.
Was sich über die weltweite „Eras Tour“ mit ihren Showeffekten und Einwegbechern wohl eben nicht ohne Weiteres behaupten ließe, an diesem Eindruck ändern auch ein paar über die Bühne radelnde Tänzer wenig. Während bei Heimspielen des HSV und zuletzt auch der Fußball-EM im Volksparkstadion mit Becherpfand gearbeitet wird und wurde, türmt sich während des Konzerts von Taylor Swift nicht nur das Wegwerfplastik rund um die Mülleimer. Kein schöner An- und Ausblick. Mein Trost: Immerhin macht die Popikone der Neuzeit keine Mülltonnenmusik, wie die Mutter der Swift-begeisterten Tochter etwa die Autotune-Ausgeburten (bei Cher war das damals ja irgendwie noch recht innovativ und witzig) heutiger Bösewichtrapper zu bezeichnen pflegt. Und zur Müllverbrennungsanlage ist es ja auch nicht weit.
Die Caterer selbst, oder vielmehr einige Mitarbeitende desselbigen, kontern mangelnde Nachhaltigkeit am Dienstagabend derweil mit gesteigerter Nachsicht: Als sich abzeichnet, dass etliche in der Schlange wartende Swifties den Konzertbeginn im Stadioninneren verpassen würden, helfen sie vor allem den jungen Fans mit einem spontanen Rabatt über den Startschmerz hinweg. Und damit gleicht sich auch mein Rabenvatergewissen wieder ein wenig aus, meine Tochter und ihre Freundin überhaupt erst zum Imbissstand ziehen gelassen und den Gastroservice nicht vorausschauend selbst übernommen zu haben. Daran, die jüngere Schwester als aufstrebende Swiftie beleidigt zu Hause zu wissen, habe ich allerdings weiter zu knabbern.
Das AC/DC-Oropax bleibt daheim – warum nur?
Besser is allerdings, denke ich wiederum, während sich der Lärmpegel allein dann schon in ungeahnte Sphären schraubt, als die kreischende Menge ein paar erste Crewmitglieder backstage erspäht. Das wäre doch nichts für noch kleinere Kinderohren ... Was dann losbricht, als die Heldin des Abends um 19.33 Uhr mit einem auf Deutsch vorgetragenen „Schön, euch zu sehen“ (also nicht: „Schön, euch zu hören“) selbst die Bühne betritt, stand zwar zu befürchten. Aber vorbereiten kann man sich auf einen solch brachialen Moment wohl doch nicht. Und selbst bei einem Irgendwann-Wiederaufstieg des HSV dürfte im Volksparkstadion wohl kaum eine vergleichbare akustische Hölle aufbrechen. Tausendfach gelesen in Kritiken über Teenieschwarmauftritte von Justin Bieber bis Olivia Rodrigo. Aber erleben muss man den Kreischalarm eben doch selbst. Wie können so viele junge Menschen nur einen solchen Lärm veranstalten? Und warum zum Geier sehe ich Oropax allerhöchstens in alternden Höreingängen?
Ich Mittvierziger selbst allerdings habe mein Oropax, das ich erst wenige Wochen zuvor für die Altrocker von AC/DC erhalten und tatsächlich nicht benötigt hatte, Gott weiß warum gleich ganz zu Hause gelassen (hatte ich die schlechte Vorbereitung schon erwähnt?). Um im letzten Drittel schließlich doch zu kapitulieren, noch einmal auf das anfängliche Angebot meines Sitznachbarn (ein Swiftie par Excellence) zurückzukommen und mir zwei lindernde Ohrstöpsel reichen zu lassen. „Und dann tut es dir leid, doch dann ist es zu spät. Zu späääät, zu spät“, dröhnt es durch meinen Gehörgang. Nun ja, mit dem Fiepen muss ich jetzt eben klarkommen.
Taylor Swift hechtet unter die Bühne und macht winke, winke
Klarkommen muss auch die Protagonistin mit den Wassermassen. Das gelingt ihr derart professionell, dass sie gegen Ende sogar noch die Muße findet, per angedeutetem Köpper in eine Bühnenluke zu hechten und imaginär darunter durchzutauchen. Hat unsere Helene so etwas eigentlich auch auf dem Kasten? Beeindruckend. „Hast du das gesehen?“, stoße ich meine nach bald drei Stunden Dauergetanze und -gesinge doch etwas müde wirkende Tochter an. „Mhm.“
Überhaupt wirkt Taylor Swift auf ihrer immerhin schon 43. Station der insgesamt 51 Städte umfassenden „Eras Tour“ extrem professionell, aber trotzdem nicht distanziert, sondern ihrem treuen Publikum äußerst zugewandt. Diesen Spagat beherrscht sie also auch. Was sie nicht zuletzt bei ihrem Backstage-Abgang um 22.51 Uhr mit einem letzten „Winke, Winke“ in Richtung der verbliebenen Zuschauer unter Beweis stellt. Ein finaler Dezibel-Ausschlag vor der Abfahrt ins Hotel Vier Jahreszeiten, dann ist Hamburgs Konzertereignis, erster Teil, passé. Und ich bin dem Phänomen Taylor Swift zwar nicht vollends auf den Grund gegangen, aber zumindest ein ganzes Stückchen nähergekommen.
Taylor Swift widerlegt Vorurteile unbedarfter Konzertgänger
Dazu trägt auch ein neues Accessoire bei: Als ich auf dem Rückweg entlang der zahlreichen Armbandkoberinnen von einem besonders selbstlosen Swiftie tatsächlich sogar ein kostbares Einzelstück geschenkt bekomme (mit dem allenfalls halb zufälligen Titel „Mastermind“), kann ich mein Glück kaum fassen. „Aber ich habe gar kein Armband zum Tauschen“, lüge ich. (Das liebevoll geknüpfe „Cruel Summer“-Geschenk meiner Tochter kann ich doch schließlich nicht einfach so hergeben.) „Kein Problem, das schenke ich dir!“ „Echt jetzt?“ „Ja, klar!“ „Sicher?“ „Natürlich!“ „O wow, vielen Dank!“ „Sehr gerne, kommt gut heim!“ Das tun wir dann auch. Zum Glück unfallfrei zwischen Massen amerikanisch-englisch sprechender Swiftie-Gruppen hindurchradelnd, die von ihren süßen Taylor-Träumen in irgendwelchen Hotelbetten ungleich weiter entfernt sind als wir happy locals.
Und während ich mit müden Augen und Ohren, aber längst unbeobachtet von der selig schlummernden Swiftie-Tochter diese Zeilen zu Ende tippe, schauen mich ein vorerst letztes Mal zwei dauerblinkende Pupillen aus dem swiftschen Leuchtarmband an. „Deine Augen machen bling bling, und alles ist vergessen“, schießt es mir durch den Kopf. Was für einige der Vorurteile gilt, die sich trotz oder gerade wegen aller selbst auferlegter Unkenntniss über Taylor Swift einschlichen. Wozu unweigerlich eine bis dato angenommene musikalische Schlichtheit respektive Beliebigkeit zählte, die ich derart erfolgreichen Massenphänomenen reflexartig attestieren möchte.
Diese Annahme hat der inzwischen politisch wagemutig gegen US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump positionierte Megastar aus Amerika mit dem spektakulären ersten von zwei Hamburg-Konzerten eindrucksvoll widerlegt und mich damit Lügen gestraft. Und ja, auch wenn ich musikalisch im Zweifel wohl weiterhin eher bei Dancehall-Reggae als Swift-Country verweilen werde, möchte ich Taylor im Geiste ein letztes Mal zurückwinken und zurufen: „Man seeed sich!“
Epilog:
Als wenige Stunden später das jüngste Familienmitglied meinem „Guten Morgen, hast du gut geschlafen?“ mit dem allzu angebrachten Hinweis darauf ausweicht, dass sich sein Ninjago-Geburtstagswunsch ein weiteres Mal geändert habe, fällt mir doch glatt ein Legostein vom Herzen. Kein Problem, gerne, sicher – das bedeutet ja immerhin, sich nicht erneut stundenlang in virtuelle Ticketschlangen be- und Unsummen für Konzertkarten ausgeben zu „müssen“. Und es zeigt mir obendrein: Es gibt tatsächlich auch jüngere Menschen als mich, die Taylor Swift noch nicht vollständig erfasst haben. Und als mir Sohnemann dann noch vorträgt, dass die Gehirnmasse von Odin, dem Hundeknecht des Comichelden Garfield, gleich null ist, kann ich angesichts des noch nicht vollständig verarbeiteten Konzerterlebnisses nur spürbar ausgelaugt entgegnen: meine auch, mein Freund, meine auch.