Hamburg. Das machen wir jetzt anders: Jung, divers und selbstbewusst präsentierte sich das Chineke! Orchestra im Großen Saal. Dirigent? Gab‘s nicht.

„Normal“ ist das nicht, wenn der Konzertmeister für den ersten Einsatz nicht Richtung Dirigent oder Dirigentin linst (diese Leitstelle war an diesem Abend eh nicht besetzt), sondern seitlich den Augenkontakt mit der weiter hinten platzierten Kontrabassistin und Orchestergründerin Chi-Chi Nwanoku sucht und hält, die ihn wortlos freundlich, aber bestimmt lenkt. Doch mit dem üblichen „normal“ haben sie es grundsätzlich nicht bei „Chineke!“. Das 2015 gegründete Londoner Ensemble, jung und ethnisch divers, will es bunt und anders als gewohnt, will andere Blickwinkel und Möglichkeiten eröffnen, für Musikerinnen und Musiker, die entschieden nicht so normiert aussehen, wie die meisten „klassischen“ Orchester seit Jahrhunderten und immer noch aussehen. Anderes, weniger „klassisches“ Repertoire spielen wollen sie natürlich erst recht. 

Einmal jährlich kommt Chineke! mittlerweile in die Elbphilharmonie, das Schleswig-Holstein Musik Festival buchte sie nun als Vorband noch vor dem regulären SHMF-Start an diesem Wochenende in den Großen Saal ein. Fela Sowande, „African Suite“ für Streicher und Harfe, 1944 uraufgeführt – genau das programmatische Ausrufezeichen, das man zur Horizonterweiterung im Namen trägt. Ein in Nigeria stammender Komponist, der in den 1930ern aus Lagos nach London kam, dort Karriere machte und in seinem bläserlosen Fünfsätzer Traditionen der neuen mit jenen der alten Heimat auf einen interessanten gemeinsamen Nenner brachte. Zitate aus ghanaischer und nigerianischer Musik, eingebettet in adoptierte Strukturen, damit den Folklore-Postkarten nicht unähnlich, die ein Bartók seinerzeit aus seinem Forschungsgebiet Osteuropa schrieb. Nur eben ganz anders. Ganz eigen. 

Elbphilharmonie: Ein Orchester, das es mit „normal“ nicht so sehr hat

Klar wird schnell: Die Chineke!-Streicher und -Streicherinnen spielen nicht in der Champions League mit; aus dem freundlichen Miteinander, in dem mal die Harfe, mal das eine oder andere Solo-Instrument begleitet wurden, hätte man mit mehr Feinabstimmung nicht nur dynamisch mehr herausholen können. Sollen. Aber hier war nun mal eher der Weg ins Rampenlicht das Ziel. Perfekt poliert präsentieren muss man diese Musik vielleicht nicht, weil es noch wichtiger ist, sie überhaupt zu spielen, sie stolz und selbstbewusst aus ihrer Nische herauszuholen.

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Auftritt Rosie Bergonzi, garantiert eine Premiere in der Elbphilharmonie-Historie, denn die junge Britin klopfte sich mit den Fingerspitzen durch „To The Hibiscus“, ein für sie von Cassie Kinoshi geschriebenes Konzert für einige Streicher, Harfe und zwei Handpans. Die erinnern optisch an zusammengelötete Wokschalen mit üblen Aknenarben und beschallen ansonsten eher Fußgängerzonen, erzeugen aber lieblich säuselnde, sehr spezielle Tönchen-Erlebnisse, wenn man so gut wie Bergonzi weiß, wie es geht. Wieder etwas gelernt, wieder womöglich ein Klischee abgeräumt.

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Elbphilharmonie: Barocke Ohrwürmchen zu handlichen Aroma-Portionen verarbeitet

Damit war die erhellende Kür erledigt, auch die SHMF-Pflicht – in diesem Sommer steht Venedig im Fokus – absolvierten die Chinekes am Erwartbaren vorbei. Ja, Vivaldi … ja doch, die „Vier Jahreszeiten“ … Nur: anders. Der nicht zu Aufregendem neigende Neoklassiker Max Richter hat für „Vivaldi Recomposed“ die barocken Ohrwürmchen zu handlichen Aroma-Portionen verarbeitet. Trailer, die noch so gerade eben nach dem Original klingen, um dann einige achttaktige Runden um sich selbst zu drehen. Mal gestaucht, mal gedehnt, harmonisch neu möbliert, als hätten Ludovico Einaudi und Philip Glass gemeinsame Sache gemacht.

Die Geigerin Elena Urioste war eine Solistin, die gut mit Richters Vokabular aus Zitaten und Haltetönen klarkam. Der clever dosierte Déjà-vu-Effekt trug das Remake geschickt Richtung Schlussapplaus. Und Uriostes Zugabe sollte man wahrscheinlich auch gesellschaftspolitisch deuten dürfen: „Somewhere Over The Rainbow“.