Hamburg. „Johann Holtrop“: Der künftige Burgtheater-Intendant ist mit einem rein weiblichen Ensemble zu Gast. Und das Festival meldet Erfolgszahlen.
Jeder Mensch lebt in seinem eigenen Gefängnis. Gier, Eitelkeit, Größenwahn in einer Welt voller Strippenzieher, die das Scheinwerferlicht suchen und sich irgendwann im eigenen Tun verheddern. Das so schlichte wie ausgesprochen prägnante Bühnenbild von Olaf Altmann – mehrere von Gummistricken eingezäunte Spielflächen – lädt da zu vielfältigen Assoziationen.
Eine allerdings bleibt auch während der Hamburg-Premiere von Stefan Bachmanns preisgekrönter Theaterproduktion „Johann Holtrop: Abriss der Gesellschaft“ nach dem Roman von Rainald Goetz präsent: die Inspiration der schillernden Hauptfigur durch den einstigen Bertelsmann-Top-Manager Thomas Middelhoff. Dessen tiefer Fall (und die neugierige Frage „Was macht eigentlich ...“) war auch nach dem gut besuchten Gastspiel des Schauspiels Köln (in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus) beim Hamburger Theater Festival noch Gossip-Thema auf der sonnigen Kampnagel-Plaza. Neben der Einstellung des Cum-Ex-Verfahrens gegen den Hamburger Bankier Christian Olearius just am selben Morgen. Zufälle gibt‘s.
Finale des Hamburger Theater Festivals: Unter „Vergangenheitskrätze“ leidet diese Inszenierung nicht
Unter „Vergangenheitskrätze“, eine der hübschen Goetz‘schen Worterfindungen im Text, jedenfalls leidet diese Inszenierung ganz und gar nicht. Auch wenn sie in Köln erst zehn Jahre nach dem Roman auf die Bühne kam und das Hamburg-Gastspiel wiederum erst anderthalb Jahre nach der Kölner Premiere stattfindet. Die Obszönitäten der „Geldmenschen“ haben sich nicht überlebt, auch nicht die erst von Goetz und dann von Bachmann (dem künftigen Intendanten des Wiener Burgtheaters) so genau beobachteten und aufgespießten Überheblichkeiten. Narzissmus ist bühnenwirksam, nicht nur im Theater.
Das Kapitalismus-Musical „Johann Holtrop“, in dem die rhythmischen Goetz-Zeilen vielfach chorisch zur Live-Musik passieren, ist das Finale des diesjährigen Hamburger Theater Festivals. Eine zahlenbasierte Erfolgsbilanz passt insofern zum Sujet: Die Auslastung der Vorstellungen betrug im 16. Festivaljahr 95 Prozent. Rund 13.300 Zuschauer sahen die eingeladenen Produktionen. Der Umsatz des privat finanzierten Festivals (das allerdings Produktionen aus den großen Staatstheatern präsentiert) beläuft sich in diesem Jahr auf 1.300.000 Euro.
„Johann Holtrop“ zum Finale: Die Auslastung der Festival-Vorstellungen betrug 95 Prozent
Nach zuletzt zahlreichen männlichen Bühnenstars (Harzer als „Macbeth“, Meyerhoff als Platonow, Eidinger als „Richard III.“, Matthes im „Zerbrochnen Krug“) ist der Clou dieser Bühnenadaption das rein weibliche Ensemble, das mit Spiellust und comichafter Wandlungsfähigkeit in verschiedenste Typen schlüpft. In der Titelrolle liefert Melanie Kretschmann im blauen Anzug und mit wasserstoffblondem Kurzhaarputz eine energetische Höchstleistung ab. Wie Holtrop sich an der eigenen Geschmeidigkeit berauscht, hingerissen vom eigenen Charisma und scheinbar unerschöpflicher Macht, ist so skandalös irrsinnig wie faszinierend: „Wir haben kein Geld? Dann besorgen wir uns eben eines!“
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„Wirtschaft war endlich Kunst geworden“, heißt es im Text verzückt. Und das gilt natürlich auch für diesen kurzweiligen Abend, der formal und sprachlich funkelt, der (nur manchmal etwas zu) witzig und in seinen besten Momenten unbehaglich ist. Eine Ego-Show als Ensembleleistung. Die, zumindest in Hamburg, übrigens auch auf der Ebene der Publikumsspiegelung für interessante Irritationsmomente sorgt: „Als Unternehmer in Deutschland besteht das Leben aus schwachsinnigen Grenzen“, heißt es an einer Stelle abfällig. Hier und da: zustimmendes Gemurmel.
Wer sich oder sein Umfeld in den Figuren wiedererkennt, dürfte – je nach Veranlagung, Status und Selbsteinschätzung – entweder beleidigt oder zutiefst erschrocken sein. Oder etwa gebauchpinselt? Großer Applaus jedenfalls, dann Smalltalk und Kaltgetränke.