Hamburg. In „stille trommeln“ spricht Hahn als neugierige, freundliche, mit einem Urvertrauen an die Sprache ausgestattete Lyrikerin zu uns.
Warum nur denkt man automatisch an den Scharfrichter, wenn man diese Neuerscheinung in den Händen hält? „stille trommeln“: Genauso müssen Gedichtbände heißen. Marcel Reich-Ranicki (1920–2013) hätte das sicher genauso gesehen. Er entdeckte Ulla Hahn einst. Er machte sie groß. Er war es aber auch, der Hahns Romane harsch abkanzelte. Hahn sprach damals von einem „Vernichtungsversuch“. Herrliche Zeiten. Kein Wort konnte groß genug sein.
Deswegen denkt man an Reich-Ranicki, wenn man neue Hahn-Verse liest: Er liebte ihre Verse, und er verdammte ihre Prosa. So wenig er die Veröffentlichungen der letzten Romane Hahns erlebte, so wenig erlebt er nun diese neue, beglückende Lyrik-Sammlung.
Ulla Hahn arbeitete lange an ihrer großen Hilla-Palm-Saga
Vor zehn Jahren erschien „Wiederworte“, eine Gedichtsammlung von Ulla Hahn. Es war der letzte Band mit neuen Gedichten. Hahn arbeitete seitdem vornehmlich an ihrer großen Hilla-Palm-Saga, dem autobiografischen Zyklus, bestehend aus den Romanen „Das verborgene Wort“ (den Reich-Ranicki 2001 so heftig verriss), „Aufbruch“ (2009), „Spiel der Zeit“ (2014) und „Wir werden erwartet“ (2017).
Auf den Einband von „stille trommeln“ ließ die 75-Jährige, die aus Nordrhein-Westfalen stammt und seit langem in Hamburg lebt, notieren, wie sie diese neuen Gedichte verstanden wissen will, und auch im Nachwort geht sie auf die Kräfteverhältnisse in ihrem Werk ein. Die Gedichte seien Werke aus den vergangenen 20 Jahren. Und „als Antwort und Reaktion auf ihre erzählerische Prosa entstanden“.
Dies ist nichts anderes als die Rückversicherung als Lyrikerin, die Publikums-Aufklärung darüber, dass hier eine zwar den Schwerpunkt ihrer Arbeit wechselte. Aber eben nie ohne die konzentrierte Verdichtung, die Ver-Dichtung und die Total-Veredelung der Sprache durch Formstrenge und Sound, rhetorische Figuren und Musikalität konnte. In die Romane „Spiel der Zeit“ und „Wir werden erwartet“ fanden einige der Gedichte Eingang – für Leserinnen und Leser Hinweise, dass die lyrische Stimme Ulla Hahns nie verstummte.
Hahn ventilierte ihre Vorhaben schon früh künstlerisch
Im Nachwort kommt sie selbst auf die Wege zu sprechen, die sich ihre Poesie bahnte. Als sie für das in den Siebzigerjahren spielende „Wir werden erwartet“ recherchierte, fand sie im Keller des Bruders ihre politischen Texte von einst. Mietpreiswucher, Bodenspekulation – es gab viel zu bekämpfen. Oder Engagement zu zeigen, zum Beispiel „für einen Sandkasten in der Hamburger Kegelhofstraße“. Gegen das „Großkapital“ zog man damals beherzt und mit Verve und energischen Parolen zu Felde. Aber allein Ulla Hahn, so ist anzunehmen, ventilierte ihre Vorhaben und Gedanken gleichzeitig künstlerisch. Auf der Rückseite der politisch betexten Matrizen hätte sie Gedichte gefunden, „mal eben mit Kuli hingekritzelt“.
Einige der Gedichte von damals sind nun zusätzlich neben den weitaus späteren in diese Sammlung gelangt. So geht nichts verloren im Hahn-Kosmos, auch wenn das Frühe noch nicht den Schliff des Späten hat. Was die Entstehung jener Gedichte in politisch und persönlich bewegten Zeiten verrät, ist die Notwendigkeit sprachlicher Entlastung.
Der Theoriewahnsinn der linken Revolutionäre war berüchtigt und unschön zu lesen. Es galt, die Worte aus ihren Korsetten zu befreien und tanzen zu lassen. Oder wie Hahn schreibt: „In Gedichten fand ich offenbar schon früh und immer wieder zurück zu den Wörtern an der Quelle, zu Wörtern, die frei sind, ungebunden, sich keinen Regeln fügen müssen, außer den selbst gestellten, vor allem den Regeln von Rhythmus und Klang, doch nicht irgendeinem von außen verordneten Zweck“.
Ulla Hahns Gedichte sind von Sprachbildern durchsetzt
Hahns Zugriff auf ihr Werkzeug, die Sprache („diese unendliche Fülle der/sechsundzwanzig Buchstaben/von einer Zeile zur anderen offen/gestanden“), ist, wie soll es anders sein, unverkrampft. Jede Lyrikerin und jeder Lyriker spielt auf ihre und seine Weise mit Sprache. Wie alle nachhallenden Gedichte sind die von Ulla Hahn von Sprachbildern durchsetzt, die dem Lesenden oder Hörenden nie eindeutig erscheinen.
Die Sprache biedert sich nicht an: Offensichtliche Interpretationen eliminierten jeden Wortzauber. Trotzdem gibt es auch den unmittelbaren Zugang, gerade wenn Hahns Lyrik direkt mit den autobiografischen Themen ihrer Prosa verzahnt ist: „Dein Vater sagt ihr/hatte noch Öldreck/in den Schwielen/und unter den Fingernägeln/als sie ihm die Hände/kreuzten im Sarg/Deine Mutter sagt ihr/kriegt abends den/Rücken nicht mehr gerade/wenn sie die/letzte Treppe geputzt hat/Du aber sagt ihr/sitzt auf deinem Stuhl/und schreibst Gedichte/Ja sage ich eben drum“.
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Die Abstammung aus der rheinischen Arbeiterschicht wird auch dialektal („Bis hück han isch misch/dat nit jetraut/en Jedischt in minger Moddersproch“) gespiegelt, aber das Hauptaugenmerk der Gedichte liegt doch, als Verdoppelung der Aussage ihrer Roman-Tetralogie, auf ihrem Weg aus jener Herkunftswelt. Dieser Weg führte immer über das Wort, und so wird der dichterische Akt selbst oft zum Stoff des dichterischen Werks. Am schönsten dann, wenn sich die Spracherfahrung mit Naturerfahrung mischt: „Wetter endlich still/wie weißes Papier/das sich mit Wolken füllt Wörtern füllt“.
Oft sind die Gedichte namenlos, aber eins heißt ultraplakativ „Poesie der Grammatik“. Die Poesie transzendiert das Leben, so wie es ist. „stille trommeln“ ist über weite Strecken ein leichthändiges, tröstliches Kompendium und, ja, eine in diesen Tagen hilfreiche Übung in Akzeptanz und Haltung. Die Miniatur „Älterwerden“: „In der Sonne sitzen nichts tun/abwarten sich wärmen lassen/reif werden wie der Apfel im Baum/Der Pflücker wird keinen vergessen“.
"Brotkrumen streuen für den Rückweg"
Überhaupt, das Altern zum Tode, wie sollte dies nicht Gegenstand lyrischer Überlegungen sein, wenn man wie Hahn längst in der zweiten Lebenshälfte unterwegs ist? „Gehen gehen gehen“ heißt ein Gedicht, es formuliert unmissverständlich, was das Leben ist, bis es genau das nicht mehr ist: Bewegung. Dann ist der Tod da. Wer es wie das lyrische Ich vermag, der geht gnädigerweise nicht allein dem Ableben, sondern immer auch dem Vers entgegen, und der köstlichste lautet hier: „Brotkrumen streuen für den Rückweg“.
Über die Zusammenarbeit mit Generalmusikdirektor Kent Nagano, für den sie Zwischentexte zu Schuberts „Rosamunde“ schrieb und der sie mit dem Text für eine „Urknallkantate“ beauftragte, kam Hahn zuletzt an die Naturwissenschaften. Es galt, wie sie im Nachwort schreibt, deren Weltsicht zu verstehen. Mit Erfolg, gewissermaßen. „Ja, mein neues Wissen lehrte mich einen staunenden, dankbaren, demütigen Blick auf die Schöpfung, ihre unzähligen Wunder“, resümiert Hahn. Mit „neuer Sprache“ wolle sie an die „scheinbar so nackten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse“ gehen und sie „kleiden“.
Die Bemäntelung durch Poesie gelingt. Hahns Verse sind von der Warte der Staunenden („Unser zarter Globus/eine kleine Prise Marterie“) und der die Weltsicht paritätisch zwischen Naturwissenschaft und Kunst Aufteilenden („Sterne Berge/die Wolken die See/mein Herz oder deines/Rhythmus oder Algorithmus/Gen oder Seele/Alphabet oder Elementarteilchen/Hölderlin oder E=mc²“).
Ulla Hahn spricht in diesen Gedichten aus 20 Jahren als neugierige, freundliche, mit einem Urvertrauen an die Sprache ausgestattete Lyrikerin zu uns. Hören wir, was sie zu sagen hat. Vertiefen wir uns einmal mehr in das Werk dieser Könnerin, die eine der Besten ihres Fachs geblieben ist.