Hamburg. Ihre legendäre Lyriksammlung gibt sie noch einmal neu heraus. Im eigenen Werk fand die Autorin zwei Texte zur aktuellen Situation.

„Gedichte fürs Gedächtnis. Zum Inwendig-Lernen und Auswendig-Sagen“ heißt ihr berühmter Band. Jetzt erscheint er in einer Neuausgabe. Aus diesem Anlass sprachen wir mit Hamburgs erster Dichterin Ulla Hahn, die dem Abendblatt gleichzeitig dankenswerterweise zwei ihrer eigenen Gedichte zur Verfügung stellte.

Hamburger Abendblatt: Verbringen Sie noch Abende mit Ehemann und Freunden, an denen Gedichte vorgetragen werden?

Ulla Hahn: Das Buch „Gedichte fürs Gedächtnis“ ist von genau solchen Abenden mit amerikanischen Freunden, Peter und Margret, angeregt worden. Ich habe es den beiden gewidmet. Und am Ende seines Lebens, als Peter Stern, ein jüdischer Deutscher, der von den Nazis vertrieben wurde, dement wurde, verstand er nur noch die deutsche Sprache, und ich las ihm bei jedem Besuch deutsche Gedichte vor. Mein Mann Klaus von Dohnanyi, der auch wesentlich am Buch mitgewirkt und ein sehr schönes, sehr persönliches Nachwort geschrieben hat, liest mir gerne Gedichte vor, und ich tue das auch. Er kannte und liebte übrigens meine Gedichte, bevor wir uns begegneten. Nicht die schlechteste Voraussetzung für eine gute Beziehung.

Es gibt jetzt eine Neuauflage der von Ihnen herausgegebenen Gedichtsammlung. Warum?

Hahn: „Gedichte fürs Gedächtnis“ erschien seit 1999 in der Deutschen Verlagsanstalt, DVA, in sage und schreibe 24 Auflagen. Nun ist die Belletristik zum Penguin-Verlag gewechselt, und dort erscheint die 25. nun als die 1. Auflage. Die allerersten Auflagen stecken noch im eleganten Schuber und stellen für einzelne Gedichte lange komplizierte Internetadressen zur Verfügung; das war damals sensationell.

Ein Gedicht „inwendig“ lernen, geht das?

Hahn: Ein Gedicht möchte zu Herzen gehen. Und das schlägt nun mal in der Brust, also „inwendig“. Wir müssen uns auf ein Gedicht einlassen, das Gedicht in uns hineinlassen, unsere Sinne, unsere Gefühle, es in uns zum Leben erwecken, sonst bleibt es ein totes Ding, ein Buchstabenhaufen.

Warum ist ein Gedicht viel wirkungsvoller, wenn man es laut deklamiert?

Hahn: Ein Gedicht ist wie eine Partitur. Musik macht daraus erst der Musikant, die Leserin. Lesen ist wie Musik spielen und hören zur selben Zeit. Gedichte sind Klangkörper. Sie verlangen danach, in den Mund genommen zu werden, wollen gelesen werden mit dem „Gaumen des Herzens“ (Augustinus), so genussvoll wie mit Zunge und Zäpfchen, wohltuende, wohlschmeckende Seelenspeise. Im Aussprechen durchdringen Sie das Gedicht mit Ihrer Persönlichkeit, Ihren Erfahrungen und schaffen damit ein nie Dagewesenes: Ihr eigenes Gedicht.

Ist es möglich, Gedichte zu einem Großteil über ihren Klang zu „verstehen“?

Hahn: Das ist durchaus so. Unvergesslich ist mir eine Veranstaltung des Internationalen PEN in Bled, damals, Ende der 70er-Jahre, noch Jugoslawien. Am ersten Abend versammelten wir uns in der Kapelle auf dem See. Dann trat jeweils einer oder eine aus jedem der Staaten an das Taufbecken und las ein Gedicht in seiner Muttersprache. Ich hatte damals noch nichts veröffentlicht und trug das Gedicht „Mondnacht“ von Joseph von Eichendorff vor – aus dem Gedächtnis! Was habe ich „verstanden“, empfunden? Eine tiefe Ergriffenheit, wie sie sonst nur Musik hervorrufen kann. Auch mit Gedichten von Hölderlin kann man diese Erfahrung machen. Seine Dichtung, insbesondere die späten Hymnen, sind von der Klangfülle großer Symphonien. Hölderlin schlägt nicht einzelne Töne, Wörter, an, die sich zu linearen Melodien, Sätzen, verbinden. Hölderlin greift Akkorde. Akkorde, die in den Silben, Zeilen, ja Strophen in ihrer ganzen Wucht nachhallen. Wichtig ist: Sie müssen sich beim Lesen Zeit lassen. Nur dann spüren Sie die Poesie im Nachhall der Worte. Dann hören Sie das Unaussprechbare.

Wenn es das eine Lieblingsgedicht geben sollte, welches wäre Ihres und warum?

Hahn: Mein Lieblingsgedicht ist immer gerade das, welches mich gefangen nimmt. Das wechselt. Und das ist gut so, denn ich bin ein neugieriger Mensch. Aber natürlich gibt es Gedichte, die ich, oft auch erst nach Jahren, immer wieder lese und dabei dann eine merkwürdige Erfahrung mache: Wenn ich mich verändert habe, verändert sich auch das Gedicht, denn ich lese es mit neuen Augen und Ohren, auf dem Hintergrund neuer Erfahrungen und erlebe somit auch das Gedicht neu. Das kann enttäuschend sein, weit öfter aber beglückend.

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Sie traten zunächst mit Aplomb als Lyrikerin in Erscheinung, ehe Sie zur erfolgreichen Romanschriftstellerin wurden. Dichten Sie eigentlich noch?

Hahn: Was für eine Frage! Das Gedicht ist die Muttersprache der Literatur. Gerade stelle ich einen neuen Gedichtband zusammen, der im Herbst erscheinen soll, längst vor Ausbruch der gegenwärtigen Krise geplant, vor allem aber: lange vorher geschrieben. Denn der Band umfasst Gedichte, die ich während meiner Arbeit an den vier Romanen geschrieben habe. Offenbar musste ich immer wieder zurückkehren zur Quelle, dem reinen Wort.

Eine Befreiung?

Hahn: Ja. Diese Gedicht waren pure Befreiung von einer Prosa, die auch immer Faktentreue garantieren musste, etwa: Gab es Anfang 1970 schon einen Rollenkoffer. Manchen Gedichten merkt man diesen Übermut direkt an; sie haben ihren Platz im Kapitel „Verrückte Gedichte“. Andere sind Kommentare zum Zeitgeschehen, etwa zum Elend flüchtender Menschen auf dem Meer oder zum Umgang mit unserer wunderschönen, einzigartigen Heimat Erde, unserer Mutter Natur. In einem Vorwort werde ich Leserin und Leser auf ihre Lektüre vorbereiten, indem ich meinen Eindruck schildere, den die Gedichte beim erneuten Lesen unter so radikal veränderten Bedingungen bei mir hervorriefen.

Und dann ist da noch die Zusammenarbeit mit Kent Nagano.

Hahn: Aktuell schreibe ich im Auftrag des Philharmonischen Staatsorchester an meiner „Urknallkantate“. Darin versuche ich, naturwissenschaftliche Erkenntnisse in eine poetische Sprache zu übersetzen, anhand der uralten Fragen, die Wissenschaftler und Dichter seit jeher antreiben: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wozu sind wir, bin ich in diesem Augenblick der Evolution auf dieser Erde? Ein leicht wahnsinniges Unterfangen, ich weiß. Doch zu versuchen, die Kluft zwischen diesen unterschiedlichen Denkmustern zu überwinden, halte ich für wichtig. Vor allem aber möchte ich auch einen poetischen Weckruf formulieren, das Bewusstsein stärken für unsere Verantwortung für das Leben auf diesem einzigartigen Planeten. Ich bin dabei, meinen Text um die dramatische Erfahrung dieser Coronakrise zu erweitern. Denn diese Zeit der Angst, der Entbehrungen und der Verluste wird unser soziales und kulturelles Empfinden nachhaltig verändern. Zusammen mit dem Komponisten Sean Shepherd möchte ich eine poetisch-musikalische Botschaft des Trostes, der Zuversicht und der Hoffnung senden.

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Wir befinden uns derzeit im Ausnahmezustand. Gedichte als Trostreichung für isolierte Individuen – eine schöne Vorstellung?

Hahn: „Schön“ möchte ich diese Vorstellung nicht nennen, da die derzeitige Isolierung keine selbst gewählte ist. Aber vielleicht greift nun die eine, der andere mal aus purer Langeweile zu „Gedichte fürs Gedächtnis“ und merkt dann, dass die Vertiefung in ein Gedicht nicht nur die Abiturnote aufhellen kann, sondern auch die Laune. Für alle, die schon immer eine Beziehung zu Gedichten hatte, sind sie heute ein wahrer „Wortschatz“.

Gewinnen Sie der veränderten Wirklichkeit lyrische Qualitäten ab?

Hahn: Es gehört zu meinem Verständnis meines Berufes, sich mit dieser dramatischen Situation auseinanderzusetzen. Mal sehen, ob es mir gelingt, einen Haufen Hoffnung und Zuversicht ins Gedicht zu hamstern. Für heute muss ein Sprichwort aus meiner rheinischen Heimat genügen: „Et hätt noch immer jut jejange!“

Gedichte gelten als Texte für Liebhaber. In der Schule sind sie Gegenstände der Qual, nicht des Genusses. Das muss Sie schmerzen. Führen Sie einen aussichtslosen Kampf?

Hahn: Ja, die Schule! Wer hat sie nicht noch im Ohr, die vertrackte Frage: Was will uns der Dichter damit sagen? Der ultimative Killer jeder Freude am Gedicht. Was glauben Sie, wie oft ich schon, nicht nur in Schulklassen, gepredigt habe: Stellen Sie diese Frage niemals! Fragen Sie immer nur und zuallererst: Was sagt das Gedicht m i r? Sagt es Ihnen nichts, legen Sie es beiseite, lesen Sie ein anderes. Aber bitte geben Sie ihm nach einer Weile eine zweite Chance. Zudem hat sich doch in den letzten Jahren einiges getan. Da gibt es Poetry Slams und Internet-plattformen, die Berührungsängste mit dieser Kunstgattung nehmen, etwa lyrikline.org, poetenladen oder fixpoetry. Eine gute Entwicklung.

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