Scheeßel. Ist der Nostalgie-Faktor eine Reaktion auf aktuelle Krisen oder einfach zeitlos schön? Das Offensichtliche bleibt unausgesprochen.

Schräge Verkleidungen, Glitzer-bedeckte Gesichter und ein besonderes Maskottchen: Am Sonnabend zeigte sich bereits, dass das Hurricane ein buntes Festivalfür alle Altersgruppen ist. Am Sonntag dominiert allerdings eine betagtere Generation – und liefert ordentlich ab.

Das berühmte Festival-Gelände in Scheeßel bleibt am dritten und letzten Tag trocken. Der Boden ist gummiartig, vereinzelt übrig gebliebene Pfützen werden von der Sonne geduldig zu Dunst verarbeitet, während Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys mit breitem Lächeln die mediterran dekorierte Bühne betreten.

Hurricane Festival in Scheeßel: Bei Roy Bianco wird der Circle Pit zum „Schlagerstrudel“

Mit ihrem dritten Album „Kult“ haben es die elegant gekleideten Schlager-Ikonen vor kurzem erneut auf Platz 1 der deutschen Album-Charts geschafft. Sie selbst titeln ihr Konzert als „Heilige Messe des Italo-Schlagers“ – und es hat schon etwas Messe-artiges, wenn eine Hymne nach der anderen („Ponte di Rialto“, „Santorin“) in die mittlerweile doch noch sonnengebräunte (oder gerötete) Menge geschmettert wird.

Beim Hurricane Festival in Scheeßel liefern Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys Italo-Schlager vom Feinsten.
Beim Hurricane Festival in Scheeßel liefern Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys Italo-Schlager vom Feinsten. © picture alliance / Geisler-Fotopress | picture alliance

Während „Bella Napoli“ und „Sophia Loren“ gespielt werden, stimmt die gesamte Zuschauerschaft enthusiastisch in die eingängigen Texte ein. Der Circle Pit wird zum „Schlagerstrudel“, die Wall of Death zur „Wand der Begegnungen“. Nach der gesanglich-starken und mitreißenden Zeitreise ins Italien der 1980er-Jahre geht es nostalgisch weiter, vor allem für die immer noch in großer Menge auf dem Hurricane vertretenden Millenials: Mit Sum 41 und The Offspring treten zwei Bands auf, die die 2000er-Jahre für unzählige junge Erwachsene mitgeprägt haben.

Sum 41 auf dem Hurricane: Doch nicht die letzte Tour?

Sum 41 haben im vergangenen Jahr ihr letztes (Doppel-)Album „Heaven :x: Hell“ herausgebracht und eine Abschiedstournee angekündigt. Während Klassiker wie „The Hell Song“ und „In Too Deep“ laufen, in wie vielen Köpfen laufen da wohl zeitgleich die Erinnerungen an den ersten gelandeten Skateboard-Trick oder den ersten Kuss? Skate-Legende Tony Hawk macht hier heute zwar keine Kickflips auf der Bühne, aber dass die Kanadier um Deryck Whibley noch immer Bock auf Ausrasten haben, stellen sie mit knackigen Riffs und lautem Gebrüll unter Beweis.

Ein wenig (leider wirklich nur ein wenig) neues Material wird auch zum Besten gegeben: Vor allem „Landmines“ wird stark geliefert, sodass tatsächlich der ein oder andere (vermutlich) gestauchte Knöchel aus der Menge humpelt - wenn auch nicht wegen eines misslungenen Skateboard-Tricks. Gegen Ende verrät Whibley: „Haltet eure Ohren morgen offen“ - vielleicht reicht den Punkrockern eine einzige Abschiedstournee nicht?

Hurricane 2024: The Offspring versetzt die Zuschauer in nostalgische Teenie-Erinnerung

Auch The Offspring wissen diese nostalgischen Knöpfe zu drücken, obwohl sie im Oktober nochmal mit dem neuen Album „Supercharged“ abliefern wollen. Mit „All I Want“ und „Want You Bad“ wird der Menge die Erinnerungs-Keule direkt ins Gesicht geschwungen, musikalisch natürlich perfekt exekutiert. Dann gibt es ein paar neuere Einflüsse: Die neue Single „Make It Alright“ kommt gut an, auch die gitarrenlastige Interpretation von Edvard Griegs „In the Hall of the Mountain King“ bringt angenehme Kurzweil in das Set.

The Offspring wissen beim Hurricane genau, was ihre Fans wollen. (Archivbild)
The Offspring wissen beim Hurricane genau, was ihre Fans wollen. (Archivbild) © picture alliance / Gonzales Photo/Mathias Kristense | picture alliance

Letztlich wissen The Offspring aber genau, was die Leute wollen: „Pretty Fly (For a White Guy)“, „The Kids Aren‘t Alright“ und „Self Esteem“ – oder: in einer chaotischen Welt mit zunehmend dystopischen Zukunftsvisionen zurück in die Teenagerjahre versetzt werden. Als die größten (und schönsten) Probleme noch die erste Liebe, das kaputte Auto oder das pubertäre Familiendrama waren. Und wer kann es ihnen verübeln? Sum 41 und The Offspring liefern also jeweils eine erwartbar solide Show, ohne viel Raum für Fehler, aber auch ohne viel Raum für Neues. Die Festivalgänger vor der Bühne scheinen es ihnen zu danken.

Deichkind liefert fette Party: Nicht mal Festival-Boxen halten dem Bass stand

Eine deutlich ausgeglichenere Show liefern die Hamburger Jungs von Deichkind, bekannt für ihre extravaganten und spektakulären Konzerte. Allein, zu dritt oder zu siebt wird knapp zwei Stunden lang gnadenlos Song für Song rausgekloppt. Natürlich mit zigfach wechselnder Garderobe, unzähligen Skits und spektakulären Bühnenelementen (die dann auch einmal tatsächlich „abrauchen“, sodass „Kids in meinem Alter“ vor einem weißen Vorhang performt werden muss). Dröhnende Bässe und intelligente Texte sind dabei keine Mangelware: Teilweise geht es so basslastig daher, dass sogar die überdimensional großen Boxen der River-Stage übersteuern. „Leider geil“.

Fast zwei Stunden lang beschallten Deichkind ihre Fans beim Hurricane mit dröhnenden Bässen und intelligenten Texten. (Archivbild)
Fast zwei Stunden lang beschallten Deichkind ihre Fans beim Hurricane mit dröhnenden Bässen und intelligenten Texten. (Archivbild) © picture alliance / FLORIAN WIESER / APA / picturedesk.com | picture alliance

Aber auch hier scheint das Alter (zumindest für manche) eine Rolle zu spielen: Ein älterer Herr wendet sich von der Bühne ab: „Mir wäre das zu peinlich in meinem Alter“, kommentiert er das Geschehen und geht, während die Band ihm „Bon Voyage“ zuruft. „Arbeit nervt“, denken sich wohl diejenigen, die sich für Montag keinen Urlaub genommen haben und die müden Beine jetzt zum Auto schwingen müssen. „Könnt ihr Noch?“ Die Antwort der Menge auf den neuen Song ist als klares Ja zu werten. Trotzdem muss auch die längste Show auf dem Hurricane irgendwann zum Ende kommen. Wie auch sonst, mit ganz viel „Remmidemmi“.

Bring Me The Horizon: Zu später Stunde kommen die Vampire aufs Hurricane

Für viele Besucherinnen und Besucher bildet Deichkind den Abschluss des Festivals. Verständlich, nach drei Tagen Dauerbeschallung und Campingplatz-Trinkgelagen sind die Körper ausgelaugt. Offiziell vorbei ist es aber natürlich noch nicht: Während die ersten Autos vom Festival-Gelände rollen, ist jetzt die Zeit für die Nachtaktiven und die Blutsauger-Fans gekommen.

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Passend zur späten Stunde bilden Bring Me The Horizon mit ihrem „zertifizierten Vampir“-Sänger Oli Sykes den Festival-Abschluss. Das eineinhalbstündige Konzert der Briten wird seitens der Festivalgänger textsicher begleitet. Spätestens dann heißt es jedoch: ab ins Zelt, die Luftmatratze ein letztes Mal leer liegen und aufs nächste Jahr freuen. Auch, wenn man dann ein Jahr älter sein wird.