Scheeßel. In Scheeßel übernimmt die Generation Glitzer. Letztlich ist das Hurricane eine popkulturelle Wundertüte für jedes Alter.

„Der Dachs ist eigentlich ein dämmerungs- und nachtaktives Tier, doch sonnt er sich auch gerne einmal tagsüber vor seinem Bau“, erklärt das Fachblatt „Ein Herz für Tiere“. Damit wäre nicht nur das Wappentier des diesjährigen Hurricane Festivals bei Scheeßel hinlänglich charakterisiert, sondern wohl auch eine Vielzahl der mehr als 75.000 anwesenden Musikfans.

Und siehe da: Die possierlichen Tierchen trauen sich, leicht verschmutzt, sogar bereits zur Mittagsstunde weg von ihrem Campingbau. Also weg von Bier- und Ravioli-Büchsen, Fläzflächen und Flunkyball. Zahlreiche Festival-Dachse verlassen am Sonnabend ihr mehr als 200 Hektar großes Zelt- und Parkhabitat, um sich mitten hinein zu begeben ins popkulturelle Treiben. Etwa, um Schlag zwölf die Londoner Indiepop-Band Sea Girls auf der Forrest Stage zu bejubeln.

Wetter? Egal! Aber nach nassem Start wurde es auch auf dem Hurricane im Laufe des Wochenendes sommerlich.
Wetter? Egal! Aber nach nassem Start wurde es auch auf dem Hurricane im Laufe des Wochenendes sommerlich. © Getty Images | Gregor Fischer

Hurricane Scheeßel: Aufgewühlte Wiese nach Ed Sheeran

Die Wiese vor der Bühne ist nach dem Festival-Freitag mit starkem Platzregen und einem überschwänglichen Konzert von Ed Sheeran zum Finale noch etwas aufgewühlt. Doch obwohl die Turnschuhe mit Schlamm beschmiert sind: Der Glitzer funkelt bereits wieder frisch auf den Wangen. Und ein dickes Grinsen liegt im Gesicht. Der ultradynamische Indierock des Londoner Quartetts treibt gemeinsam mit der Sonne die letzte Müdigkeit aus den Gliedern.

„Wir haben drei Nächte nicht geschlafen‟, ruft Sänger und Gitarrist Henry Camamile von der Bühne. „Und das hier ist die beste Art, wach zu werden.“ Eine ausgelassene Horde tanzt im langsam trocknenden Matsch im Kreis. Einer wirft Konfetti. Seifenblasen steigen empor. Und die Menge rangelt sich tanzend zu einem euphorischen Knäuel zusammen. Ein Ausbruch im Miteinander. Ein Glück mit Freunden und Fremden. Mit Menschen und Musik. So geht Festival.

Einmal Vogelperspektive, bitte: Im Riesenrad können die Hurricane-Fans einen ganz besonderen Blick aufs Festivalgelände genießen.
Einmal Vogelperspektive, bitte: Im Riesenrad können die Hurricane-Fans einen ganz besonderen Blick aufs Festivalgelände genießen. © dpa | Moritz Frankenberg

Hurricane-Festival zeigt dringend benötigte Flagge

Noch eine Spur getriebener ist der Gitarrensound der Band Stone aus Liverpool auf der Zeltbühne. „A Change/We Want It“, singt Frontmann Fin Power und reckt seine Faust in die Höhe. Die stets wiederkehrenden Themen des Rock ’n’ Roll: Sie sind aktuell dringender denn je. Mit K.I.Z. tritt später in der Nacht ein Rap-Kollektiv auf, das auf seinem neuen Album stark politisch textet. Doch auch tagsüber zeigt das Festival Flagge. Im wahrsten Sinne des Wortes.

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„Wir lieben diese Fuck-AfD-Flagge“, erklärt Billy Lunn von der Indierockband The Subways mit Blick in die Menge und schiebt noch ein „Fuck Faschismus“ hinterher. Die Botschaft ist klar und wird heftig bejubelt. Karla Chubb, Sängerin und Gitarristin der irischen Post-Punk-Band Sprints, wiederum zollt der Riot-Girl-Bewegung der 1990er-Jahre Tribut, indem sie den Le-Tigre-Klassiker „Deceptacon“ intoniert. Ihre Haare wehen wild im Wind, so pink wie das Design der Mountain-Stage. Und auch Alice Merton zelebriert die Freiheit. Etwa, indem sie sich in dem Song „Same Team“ von alten Bindungen löst. Mit sechsköpfiger Band samt Bläsersektion präsentiert die Musikerin ein sattes Pop-Brett.

In Scheeßel hat die Generation Glitzer übernommen

Festivals wie das Hurricane bedeuten im besten Fall, Utopien real werden zu lassen. Und die Vielfalt zu feiern. Sich auszuleben. Ein Typ in Metallica-Shirt streichelt seine plüschige Flamingo-Tasche. Ein anderer trägt sein Super-Mario-Shirt bauchfrei. Die Hurricane-Jahre der vielen expressiven Ganzkörperverkleidungen scheinen vorerst vorbei. Da kommt einem zwar mal ein Tutanchamun oder ein Sumo-Ringer entgegen. Derzeit hat allerdings eindeutig die Generation Glitzer übernommen. Strass und Flitter in Bärten und auf BHs, in Haaren und auf der Haut.

Noch schnell ein Selfie in die Glitzer-Runde auf dem Hurricane-Festival.
Noch schnell ein Selfie in die Glitzer-Runde auf dem Hurricane-Festival. © Getty Images | Gregor Fischer

Letztlich ist das Hurricane eine popkulturelle Wundertüte für jedes Alter. Bei der schwer gehypten Last Dinner Party trifft der ergraute Nerd im ausgewaschenen Band-Shirt auf die junge Frau, die eine tätowierte Gitarre auf dem Arm trägt. Die Liebe zur Musik verbindet. Und bei dieser Combo mit ihrem umwerfenden mehrstimmigen Gesang an betörendem Art-Rock ist dieses kollektive Gefühl überdeutlich präsent.

Leoniden aus Kiel bugsieren ein Klavier in die Menge

Die Musikfans driften durch die sommerliche Leichtigkeit dieses Festival-Tages. Eine Clique mit funkelnden Feenflügeln und flirrenden Zauberstäben lädt ihre Umgebung mit einer ganz eigenen Magie auf zum Indiepop von Bombay Bicycle Club. Den luftig-hüpfenden Song „Meditate“ widmen die Briten der Punkpop-Ikone Avril Lavigne, die später am Abend in die Welt des „Sk8er Boi‟ zurückführt.

Avril Lavigne ließ in Scheeßel die alten Pop-Punk-Zeiten wieder aufleben.
Avril Lavigne ließ in Scheeßel die alten Pop-Punk-Zeiten wieder aufleben. © Getty Images | Gregor Fischer

Wie eng Publikum und Bands sich beim Hurricane verbinden, zeigt auch der Auftritt der Leoniden aus Kiel: Mitten in die Menge bugsieren sie ein Klavier, an dem Sänger Jakob Amr ein Medley zum Mitsingen anstimmt – von „Take On Me“ bis zu „Teenage Dirtbag“.

Paula Hartmann auf dem Hurricane: Alle Mittelfinger hoch

Tom Odell gab am Eichenring natürlich auch seinen Überhit „Another Love“ zum Besten.
Tom Odell gab am Eichenring natürlich auch seinen Überhit „Another Love“ zum Besten. © dpa | Moritz Frankenberg

Immer wieder zu beobachten auf dem Hurricane: Festival-Kontinentalplattenverschiebung. Direkt nachdem Singer-Songwriter Tom Odell sein Konzert mit dem Überhit „Another Love“ umjubelt beendet hat, pilgern große Teile der Menge zu der jungen Sängerin Paula Hartmann. Die steht im XL-Pulli auf einer Stadtkulisse, die mitten auf der Bühne prangt. Beats pulsieren. Viele haben das Handy im Anschlag. Und alle Mittelfinger gehen hoch gegen das, was einen kaputt macht. „Ich will nicht direkt am Anfang weinen“, sagt die Künstlerin angesichts der wachsenden Fan-Schar. Mit softer Stimme rappt und singt sie Bilder vom urbanen Leben inmitten des menschenvollen Grüns. Ein schöner Kontrast.

Alle Mittelfinger hoch: Fans beim Auftritt von Paula Hartmann.
Alle Mittelfinger hoch: Fans beim Auftritt von Paula Hartmann. © Getty Images | Gregor Fischer

Und wer sagt überhaupt, dass die jungen Leute nur ziellos in den Tag hineinleben, statt heute schon an morgen zu denken? „Wer nimmt mich Sonntag mit nach Köln?“, steht auf dem Pappschild, das eine Frau hochhält. Doch bis dahin warten noch viele Stunden Festival. Beim Hurricane. Im Zeichen des Dachses.