Hamburg. Dem Dirigenten François-Xavier Roth werden von Musikerinnen und Musikern sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Wie geht man mit dem Thema um?
Der Konzert-Kalender auf der Website des Dirigenten François-Xavier Roth ist ab dem 26. Mai leergefegt. Generalpause. Roth war bis dahin bestens gebucht – gerade erst hatte er noch die Berliner Philharmoniker geleitet. Der 52-Jährige ist seit 2015 Generalmusikdirektor in Köln, ist Gründer des französischen Sinfonieorchesters Les Siècles, erster Gastdirigent des London Symphony und soll eigentlich 2025 beim SWR Symphonieorchester Nachfolger von Teodor Currentzis werden.
Auch in der Elbphilharmonie hatte Roth beachtliche Konzerte gegeben. Einer der anerkannt Besten seiner Generation, dessen Karriere scheinbar nur eine Richtung kannte: immer weiter nach oben. Doch dann berichteten das französische Satire-Magazin „Le Canard enchaîné“ und das Berliner Klassik-Online-Portal „VAN“ vor einem Konzert von Roth davon, dass weibliche und männliche Orchestermitglieder Roth sexuelle Belästigung vorwerfen. Unerwünschtes Versenden von „Dickpics“, anzügliche Textnachrichten, dokumentiert auch in einem Brief an die Leitung des Kölner Gürzenich-Orchesters. Abendliche SMS von Roth seien mehrfach eskaliert. Eine Pariser Geigerin habe er zu einer „virtuellen Dusche“ eingeladen. Roth leugnete nicht und erklärte, „intime Nachrichten“ seien vorgekommen: „Wenn ich zu weit gegangen bin, möchte ich mich bei denjenigen entschuldigen, die ich verletzt haben könnte.“
#MeToo und der Maestro: Was sagen Hamburger Orchester dazu?
Da ist es wieder, das klassische #MeToo-Beute- und Opfer-Schema: alter weißer Mann in einer Kultur-Branche, in der strukturell einzementierte Machtpositionen und Hierarchien es erleichtern können, beides ungebremst auszunutzen. Beim Anmachen erwischt.
Roth zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, um ihn herum hatte die Empörung Konsequenzen: Er hat alle Dirigate mit Les Siècles, dem Gürzenich und dem SWR abgesagt; Orchester und Konzerthäuser prüfen gemeinsame Pläne; der SWR denkt darüber nach, was aus der Taktstockübergabe des lange umstrittenen Currentzis an den nun anders umstrittenen Roth wird und bittet um Geduld; eine Tournee von Les Siècles nach Japan und Korea wurde von den Veranstaltern abgesagt; Les Siècles wurde aus einem Ensemble-Verband in Frankreich ausgeschlossen, während man sich mit den Orchestermitgliedern solidarisierte; Mitglieder des Kölner Stadtrats forderten den Rauswurf Roths beim Gürzenich-Orchester, eine Anwaltskanzlei wurde zur Prüfung eingesetzt. Interessantes Detail: Laurent Bayle, der ehemalige Intendant der Pariser Philharmonie, hatte in „Le Canard enchaîné“ berichtet, im Rahmen der Chefdirigentenwahl für das Orchestre de Paris (dort war Roth in der engeren Wahl) habe ihn bereits 2019 die Stadt Paris über derartige Vorwürfe informiert.
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Noch ist nicht abzusehen, ob, wann und wie Roth seinen gekappten Karriere-Verlauf fortsetzen kann und will. Aber wie sieht es beim Umgang mit diesem Thema in der Hamburger Klassik-Szene aus? Welche Strukturen gibt es dort, um solche Missbrauchssituationen gar nicht erst aufkommen zu lassen? Und welche Regeln greifen, falls es doch dazu gekommen sein sollte?
Das Ensemble Resonanz äußert sich eindeutig zum Thema Roth
Juristische Basis bei Handlungsbedarf ist das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), besser bekannt als „Anti-Diskriminierungsgesetz“. Bei der Bewertung des Falls Roth klingen alle hiesigen Befragten mit Blick auf das AGG unisono, exemplarisch ist der Tonfall der Elbphilharmonie-Antwort: „Die gesamtgesellschaftliche Debatte um Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begrüßen wir ausdrücklich. Die konkreten Vorwürfe wiegen schwer, wir gehen davon aus, dass die betroffenen Ensembles und Institutionen alle Hinweise intensiv und gründlich aufarbeiten werden. Gleichzeitig halten wir die Grundzüge eines rechtsstaatlichen Verfahrens, zu denen das Vertrauen in gerichtliche und staatliche Prozesse, die Regeln der Verdachtsberichterstattung und die Unschuldsvermutung gehören, für demokratische Errungenschaften.“
Vom basisdemokratisch organisierten Ensemble Resonanz heißt es zum Thema Roth: „Die Vorfälle stehen in einer bedauerlich langen Reihe von berichteten Übergriffen im Musikgeschäft. Sie zeigen wieder, wie wichtig der Ausbau von geregelten Strukturen des Schutzes vor Belästigung und Machtmissbrauch sowie einer Praxis der Sanktionierung in den Institutionen und Klangkörpern ist.“
Staatsoper und Philharmoniker: „Die Vorwürfe sind schwerwiegend und verstörend“
„Die Vorwürfe sind schwerwiegend und verstörend“, lautet ein Kommentar von Staatsoper und Philharmonikern zu Roth. Dort sind Gleichstellungsbeauftragte im Amt. Die Posten seien kürzlich mit Orchestermitgliedern neu besetzt worden, die sich nun einarbeiten, „angesichts der Bedeutung des Themas war es ein expliziter Wunsch des Orchesters“. Geschäftsführung, Personalabteilung und Personalrat seien außerdem jederzeit ansprechbar. In der noch laufenden Spielzeit sei ein „Leitbildprozess für den Orchesterbetrieb“ mit externer Begleitung gestartet worden. Mit Roth vergleichbare Fälle seien nicht bekannt.
Symphoniker-Intendant Daniel Kühnel teilt mit: „Respektlosigkeiten jeder Art werden immer adressiert und nie toleriert. Mit individuellen Problemen werden Einzelne nie allein gelassen, es ist für das Selbstverständnis des Orchesters von zentraler Bedeutung, füreinander zu bürgen.“ Das nächste Kommunikationsseminar des Orchesters finde im Herbst statt.
Die Elbphilharmonie verfügt „selbstverständlich“ über eine interne AGG-Beschwerdestelle, teilt deren Pressestelle weiter mit. „Zudem haben wir eine externe Rechtsanwaltskanzlei beauftragt, um Mitarbeitenden, Künstler:innen und Kund:innen die anonyme Möglichkeit zur Anzeige von Rechtsverstößen zu eröffnen. Meldungen oder gar Verstöße hat es bisher nicht gegeben.“
Der NDR erklärt, auch auf seine Klangkörper abzielend: „Der NDR duldet keinen Sexismus, keine sexuelle Gewalt und keine Diskriminierung und verfolgt eine „Null Toleranz bei Sexismus am Arbeitsplatz“-Politik. Das gilt selbstverständlich auch für die Musikensembles und schließt auch externe Personen ein, also zum Beispiel Musikerinnen und Musiker, die engagiert werden und als Gäste auftreten.“ Sehr konkret regele die „Dienstanweisung zum Schutz vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz“ des NDR das Verfahren im Einzelnen.
François-Xavier Roths Fehlverhalten ist leider kein Einzelfall
Roths Fehlverhalten ist kein Star-Einzelfall: Im vergangenen August hatte der Dirigenten-Kollege Sir John Eliot Gardiner – für seine musikalische Exzellenz ebenso bekannt wie für sein Temperament – einem Sänger ins Gesicht geschlagen, weil der den vermeintlich falschen Weg von der Konzertbühne genommen hatte. Danach gelobte der Brite Besserung, verordnete sich eine Denkpause und eine Therapie. In wenigen Wochen wird er wieder auftreten, in Frankreich. Mitte Dezember kommt Gardiner für ein Barock-Konzert mit zwei von ihm gegründeten Spezial-Ensembles in die Elbphilharmonie – zweieinhalb Monate nach dem Sänger Plácido Domingo, um dessen anzügliches Verhalten Frauen gegenüber es immer wieder heftige Debatten gab.
Aktuellstes Beispiel für die Wiedereingliederung eines Geläuterten in sein Metier: Der Choreograf Marco Goecke hatte in Hannover im Februar 2023 eine „FAZ“-Tanzkritikerin mit Kot seines Dackels beschmiert und verlor deswegen seinen Posten. Goecke wird ab Sommer 2025 Ballettchef am Theater Basel. Der dortige Intendant sagte: „Er hat eine zweite Chance verdient.“ Ein anderer Fall: Das Concertgebouworkest trennte sich 2018 wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe von Dirigent Daniele Gatti. Im Herbst tritt er bei der Dresdner Staatskapelle die Nachfolge von Christian Thielemann an.
#MeToo und der Maestro: Bundes-Kulturpolitik ist am Thema #MeToo in der Klassik dran
ProArte-Geschäftsführer Burkhard Glashoff berichtet, dass der Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft gemeinsam mit anderen Organisationen die „Themis-Vertrauensstelle“ gegen sexuelle Belästigung eingerichtet habe, an die sich Mitarbeitende wenden können. Über diese Instanz urteilte allerdings Gerald Mertens, Geschäftsführer der Orchestervereinigung „unisono“ in der „Kölnischen Rundschau“, sie sei viel zu klein und zu schlecht ausgestattet. Mertens erwähnte im Zusammenhang mit der Causa Roth einen Schneeballeffekt: „Wenn sich einer meldet, kommen zehn weitere Fälle hinzu.“ Die Dunkelziffer sei hoch. Der NDR kooperiert ebenfalls mit Themis. Außerdem sei man dem „Baukasten gegen Sexismus“ beigetreten, den Gleichstellungsbeauftragte von ARD, ZDF, ORF und Deutsche Welle mit 16 verpflichtenden und freiwilligen Maßnahmen bestückt haben.
Auch die Bundes-Kulturpolitik ist am Thema #MeToo in der Klassik dran. In den vergangenen Wochen haben der Deutsche Kulturrat und diverse Gremien-Vertreter am Positionspapier „Respektvoll arbeiten in Kunst, Kultur und Medien“ gefeilt. Ursprünglich sollte es in diesem Monat vorgestellt werden. Kultur-Staatsministerin Claudia Roth hat inzwischen das Thema für sich reserviert und will damit im September an die Öffentlichkeit gehen. Pünktlich zum Saisonbeginn.