Hamburg. Der Dirigent François-Xavier Roth und sein Orchester Les Siècles betören in der Laeiszhalle

Wer hat eigentlich behauptet, Frankreich und Russland trennten Tausende von Kilometern? Was auf der Landkarte stimmen mag, das haben der französische Dirigent François-Xavier Roth, sein Orchester Les Siècles und die fabelhafte EuropaChorAkademie bei ihrem Musikfest-Auftritt in der Laeiszhalle für die Musik fulminant widerlegt. Ob sich nun Maurice Ravel mit „Daphnis et Chloé“ nach Osten oder Igor Strawinsky mit seinem „Feuervogel“ nach Westen bewegt hat oder beides, geschenkt. Jedenfalls brachten die Künstler die Tonsprache der beiden einander so kunstvoll nahe, dass man sie für Brüder im Geiste halten konnte. Die Verbindungsinstanz war Sergej Diaghilew, der russische Ballett-Impresario mit Wirkungsstätte in Paris. Er gab in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts beide Ballettmusiken in Auftrag.

Passend dazu wurde vorweg die Freiheitsvision eines arabischen Balletttänzers vom Band eingespielt. Die Musik selbst erhob sich nach einem finster-unterirdischen Beginn in höchste Höhen, als wollte sie nie mehr die Erde berühren. Dafür sorgte Roth mit Inspiration und energiegeladener, unaufgeregt klarer Zeichengebung.

Les Siècles hat ein raffiniert einfaches Alleinstellungsmerkmal: Jedes Werk, ob aus dem 17. oder dem 21. Jahrhundert, wird auf Originalinstrumenten der jeweiligen Epoche gespielt. Ein Musiker muss also nicht ein Instrument unfehlbar beherrschen, sondern alle Entwicklungsstufen. Das sind einige. Lohn der Mühe: Für ihre Einspielung von Strawinskys Ballettmusiken „Le Sacre du Printemps“ und „Petrouchka“ haben Roth und das Orchester aus der Hand von Abendblatt-Redakteur Joachim Mischke den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik erhalten. Die Jurybegründung („feinste Farbabstufungen und Extreme“) hätte genauso für den Abend gelten können.

Zur betörenden Vielfalt trug auch die in sich geschlossene Intonation bei. Orchestersolisten spielen sonst gerne mal eine Spur höher als das Tutti; nicht umsonst kursiert unter Musikern der nur halb ironische Spruch „besser zu hoch als falsch“. Doch an diesem Abend stellte sich keiner auf die Zehenspitzen. Die Obertöne schwangen mit, dass man sich in den Klang hätte hineinlegen mögen wie in eine warme Badewanne.

Der Feuervogel fliegt in die Freiheit. Was für ein hinreißend leichtfüßiger, poetischer Kommentar zum sonst so existenziell aufgeladenen Freiheits-Motto des Musikfests.

Internationales Musikfest Zahlreiche Konzerte bis 22.Mai.; Infos, Termine: www.musikfest-hamburg.de