Hamburg. Erbarmungsloses Gesamtkunstwerk, dirigiert von François-Xavier Roth. Das Kopfkino wird beansprucht, und die Saal-Akustik liefert.
Natürlich ist dieses Stück eine Zumutung, die einem mit ihrem geballten Einsatz zwölftöniger Musik am Nervenkostüm zerrt. Schon unter normaleren Umständen als denen des Kriege/Krisen-Winters 2024 möchte man womöglich nicht mitansehen und -hören müssen, wie Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ verrohen. Wie sie Marie, ein Mädchen aus gutem Hause, zu Nutzfleisch degradieren und sie, einer nach dem anderen, vergewaltigen, bis sie am Ende von ihrem Vater nicht mehr in der Gosse erkannt wird, in der sie um Almosen bettelt. Zimmermann lässt Soldaten auf das Publikum los, die auf alles eindreschen, was nicht wie sie ist – stahlhelmtragend, tumb, versoffen, geil und gefährlich.
Doch zwei Stunden lang gab es kein Entrinnen, kein Erbarmen. Das Stück, auf einer Vorlage des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Lenz basierend, begann mit dem ersten von unzähligen Aufschreien der Musik, einem Marschrhythmus, der schon in den ersten Momenten nach Abgrund, Verwesung und Katastrophe stank. Der folgende Auftritt der Soldaten: halb totes Wanken nur noch, gallig choreografierter Kadavergehorsam jetzt schon. Und die Höllenfahrt hatte doch gerade erst begonnen.
Elbphilharmonie: Zimmermanns „Soldaten“, schrecklich, aber toll
Diese monströs überbordende Oper – Riesenriesen-Hauptorchester, Dutzende von Solisten, drei Fernorchester, mitunter ein Lärmausstoß wie eine gut frequentierte Landebahn, auf der zusätzlich etliche Schlagzeuger Amok laufen – war bei ihrer Uraufführung vor fast 60 Jahren in Köln eine Anklageschrift gegen Militarismus, Krieg, Ungerechtigkeit und Männergewalt gewesen. Sie ist es heute noch. Und sie ist so gut wie nie live durchzuhalten, „erleben“ wäre dafür ein viel zu optimistisches Wort. Man muss sich dennoch dieser Musik aussetzen, wo sie sich tatsächlich einmal bietet, und kann als Zuhörer letztlich nur davor kapitulieren – zu viel, zu drastisch, zu verzweifelt. Zimmermann collagierte etliche Stilverweise, lässt aus dem amorphen Dröhnen unvermittelt eine Jazz-Combo atonal losswingen oder die Blechbläser eine Bach-Choral-Erinnerung als Irritationsmoment anstimmen.
In ihrer Sammlung der Riesen-Herausforderungen aus dem 20. Jahrhundert fehlte Zimmermanns Meisterwerk der Elbphilharmonie noch; eine Kooperation mit den Philharmonien in Köln und Paris brachte es nun auch an die Elbe. Die erste Überraschung dabei: Es geht tatsächlich, sehr gut sogar. Wenn auch mit zentralen Abstrichen. Denn um das von Zimmermann hineinkomponierte Durcheinander von Handlungsebenen und Plot-Portionen räumlich in den Griff zu bekommen, hat der Opernregisseur Calixto Bieito der Partitur einige ihrer härtesten Unmöglichkeiten herausdestilliert: Weil das Übergrößen-Orchester die Bühne des Großen Saals bis an die Kante belegte, blieb als Spielfläche für den konzertanten Kompromiss einzig die von den Stühlen befreite Chor-Empore, grell ausgeleuchtet, knapp neben der Orgel.
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Keine Ablenkung möglich. Keine historischen Kostüme oder Uniformen aus dem 18. Jahrhundert, der verschraubten Lenz-Sprache angeglichen und damit den Gegenwartsbezug abmildernd, sondern neutrale heutige Alltagskleidung. Keinerlei Kulisse außer einigen Neonröhren für kleinere Lichteffekte; die einzigen noch erlaubten Requisiten waren viele Stahlhelme. Und auch keine Video-Zuspielungen, die das Ganze endgültig zum Multimedia-Kessel Schlimmes gemacht hätten. Dafür war hier schlicht kein Stellplatz mehr. Kopfkino statt Massenspektakel war also gefragt.
Dass drei Schlagwerk-Inseln mitsamt den Co-Dirigenten in die höheren Ränge ausgelagert waren, sorgte für eine Rundumbeschallung, die, bei aller „Hässlichkeit“ des Materials, auch atemraubend einzigartig war. Zimmermann hatte mit dieser szenisch-musikalischen Vehemenz seine These über die „Kugelgestalt der Zeit“ darstellen wollen, dass alles mit allem und allen zusammenhänge, dass es, gerade mal zwei Jahrzehnte nach dem Ende der NS-Zeit, kein Entrinnen vor Anklagen gebe, dass Unschuldsbeteuerungen nicht funktionieren würden. Bieito aber setzte hier und jetzt, notgedrungen, ganz auf die ästhetische und moralische Überwältigungskraft der Musik. Seit Jahren bekommt er gern das „Achtung, Berserker!“-Etikett verpasst, hier aber war Bieito geradezu zurückhaltend am Werk.
Elbphilharmonie: Ein sensationelles Gesangsensemble
Die zweite Überraschung: Wie leicht und förmlich entspannt der Dirigent François-Xavier Roth bei dieser Herausforderung wirkte, und wie souverän sein auf rund 120 Mitwirkende aufgestocktes Gürzenich-Orchester mit dieser Strapaze klarkam. Kein fahnenmastgroßer Taktstock, um auch ja überall gesehen zu werden, sondern ein eher dezentes Modell genügte Roth dafür. Exzellent von ihm gearbeitet war dieses Stück, mit einem Präzisionsinstinkt für die Schichten und Untiefen; die Akustik des Hamburger Saals tat genau vom ersten Einsatz an das, wofür sie ausgelegt war: sie lieferte, so klar und so deutlich, wie das unter diesen Umständen möglich sein konnte.
Sensationell auch das Gesangsensemble, die meisten waren bei einer Aufführung 2018 in Köln bereits dabei gewesen: Emily Hindrichs glänzte in der schrecklichen Partie der Marie, Nikolay Borchev war ein ausdrucksstarker Stolzius, Tómas Tómasson ein überzeugender Wesener. Nach einer letzten Schrecksekunde, nachdem der unerbittliche Marschrhythmus das Finale wieder an den Anfang der Geschichte zurückgeprügelt hatte, brach entsprechend großer Jubel los, für ein Gesamtkunstwerk, das zeitlos wichtig ist.
Das Konzert ist ab dem 25. Januar als Stream in der Elbphilharmonie-Mediathek verfügbar. Aktuelle Roth-Aufnahmen: Saint-Saëns „Symphonic Poems“ Les Siècles, F. X. Roth (harmonia mundi, 2 CDs ca. 19 Euro). Bruckner: Sinfonie Nr. 3. Gürzenich-Orchester (myrios classics, CD ca. 17 Euro). Blu-Ray: Zimmermann „Die Soldaten“ Mitschnitt der Salzburger Festspiele 2012, Ingo Metzmacher (Dirigent), Alvis Hermanis (Regie) (Unitel Classica, ca. 15 Euro)