Hamburg. Ständig malte er sich die schlimmsten Szenarien aus. Dann entwickelte Wolfgang Müller eine Strategie, die nun auch anderen helfen soll.
Eigene Bildwelten zu erschaffen, gilt als etablierte Technik, um mit Angstzuständen und Panikattacken umzugehen. Das zeigt allein ein Blick in die Populärkultur: Bei Harry Potter verwandelt der Riddikulus-Zauber das, was eine Person am meisten fürchtet, in etwas Lächerliches. Der strenge Lehrer Snape erscheint da auf einmal im extravaganten Oma-Kostüm. Und eine riesige Spinne rutscht auf Rollschuhen aus.
Der Hamburger Musiker und Lyriker Wolfgang Müller hat seine Gedanken und Gefühle bereits in zahlreiche poetisch-warme Songwriter-Stücke fließen lassen. Und als Mitinitiator der Kinderlied-Reihe „Unter meinem Bett“ führt er auch die Kleinsten an die unmittelbare Kraft der Kunst heran. Nun legt er mit „Strudia“ ein sehr persönliches und zugleich pragmatisches Buch vor, in dem er nicht auf Musik setzt, sondern auf Visualisierung. In seinem „autobiografischen Ratgeber gegen Angststörungen“ beschreibt er eine Methode, die ihm geholfen hat, aus seinem konstanten Katastrophenmodus herauszukommen.
„Strudia“ gegen Angststörungen: Was dem Hamburger Musiker gegen seine Panikattacken hilft
Ob Atomkrieg, Artensterben, Nazis, Klimakatastrophe, Inflation oder Pandemie – ständig, so schildert Müller, malte er sich die schlimmsten Szenarien aus. Auch im privaten Bereich: „Hatte ich den Herd angelassen? Was, wenn KI meinen Job vernichtet? Wenn ich durch einen Unfall arbeitsunfähig werde?“
Das Tückische an der Angst sei, so Müller: „Sie ist immer ein Stück weit berechtigt.“ Allerdings schaffte er es nicht, sich so weit abzugrenzen, dass er sich nicht wegen all dieser Themen in dauerndem Alarmzustand befand.
Aufgrund seines hohen Leidensdrucks von Atemnot bis Todesangst erprobte er unterschiedliche Wege. In seinem Buch befürwortet Müller unbedingt, eine Therapie zu machen, um die Ursachen von Depression und Belastungsstörungen im Kern zu ergründen. Seine „Strudia“-Methode ist für ihn ein zusätzliches Werkzeug, das jederzeit einsatzbereit ist. Eben vor allem dann, wenn keine fachliche Begleitung in der Nähe ist.
Hamburger Musiker Wolfgang Müller entwickelt Strategie im Umgang mit Panikattacken
Statt also mit der Angst in fortwährende Zwiesprache zu gehen und sich in Teufelskreisen zu verlieren, setzt er auf „strukturierte disziplinierte Abgrenzung“, kurz Strudia. Diese Abgrenzung erfolgt für Müller in einer Bildwelt, in der er der Chef über seine eigene Panik sein kann. Er visualisiert seine Ängste als etwas tumbe zottelige Monster in verschiedenen Farben, die er mithilfe seiner Vorstellungskraft gezielt in ihre Schranken verweisen kann. Sein Credo: „Du kannst nicht entscheiden, keine Angst zu haben, aber du kannst jederzeit entscheiden, nicht mit der Angst zu diskutieren.“
Wichtig ist für Müller dabei, sich dieses imaginierte Reich möglichst detailgetreu auszumalen und die Besuche dort regelmäßig einzuüben, sodass Strudia quasi im Schlaf oder eben im Notfall sofort zur Anwendung kommen kann. Das heißt: Ist die Angst übermächtig, hilft die gut trainierte Visualisierung dabei, Trennlinien zu ziehen und wieder selbst die Macht über sein Seelenleben zu erlangen. Der Autor nennt dies auch die „filmische Darstellung eines inneren Konflikts, bei der man selbst die Regie übernimmt“.
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Müller rät, ein lustiges oder zumindest amüsantes Bild zu erschaffen. „Je lieber du dich in deiner inneren Welt aufhältst, je wohler du dich dort fühlst, desto leichter findest du in der Not hinein und desto besser kannst du mit dem Bild arbeiten.“
Handlungsanleitung für die eigene geistige Gesundheit – aber ohne Heilversprechen
Anhand von Übungen zeigt er, wie jeder sein individuelles Strudia erschaffen kann. Denn nicht alle können zum Beispiel etwas mit Monstern anfangen. Und er erzählt auch, welche Fallstricke bei der Anwendung lauern. Sein Buch ist eine kompakte Handlungsanleitung, die kein absolutes Heilsversprechen für sich in Anspruch nimmt, sondern vielmehr ein anschauliches Angebot darstellt.
Am Ende dankt Müller unter anderem dem Hamburger Autor Tino Hanekamp („So was von da“) für das Lektorat und seiner Crowdfunding-Community, die „Strudia“ vorbestellt hat. Bei all den Schilderungen, wie Müller mit sich selbst ringt, erfreut es doch, zum Abschluss von diesem Teamwork zu lesen.
Nach langer disziplinierter Arbeit hat Wolfgang Müller mit seiner Technik nun Autonomie und eine neue Normalität erlangt. „Dass meine Angst keine Macht mehr über mich hat und ich mich nicht mehr von Zwangsgedanken quälen lasse, bedeutet nichts anderes als Freiheit.“
Wolfgang Müller: „Strudia – Kampfkunst für den Kopf“ Fressmann, 138 Seiten, 14 Euro