Hamburg. In einer ausverkauften Kirche las der Schriftsteller aus gestrichenen Texten. Und erzählte, wie schön es ist, Menschen zu schubsen.

Den erst kürzlich an ihn verliehenen Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg trug der Hamburger Schriftsteller Saša Stanišić nicht am Revers. Dabei hätte die goldene Medaille – ihm selbst fiel es zuerst auf – schon farblich optimal in die Ottenser Christianskirche gepasst, unter den herrlichen Sternenhimmel am Deckengewölbe und die tieffliegenden Engel. Nötig wäre ein Zurschaustellen der Auszeichnung (es ist ohnehin nur eine von vielen) natürlich nicht gewesen. In Ottensen weiß man auch so, was man an diesem Buchpreis-Gewinner hat.

Die Hamburger Christianskirche ist auch ein famoser Literaturort. Saša Stanišić las hier während der Literatur-Altonale.
Die Hamburger Christianskirche ist auch ein famoser Literaturort. Saša Stanišić las hier während der Literatur-Altonale. © IMAGO/Zoonar | IMAGO/Zoonar.com/Stefan Laws

Gleich zum Auftakt seines Literatur-Altonale-Auftritts unter der Überschrift „Das schöne Scheitern“ in Kooperation mit der lokalen Buchhandlung Christiansen wurde diese Zuneigung ganz deutlich: Natürlich war der Abend ausverkauft, natürlich war das gerade frisch erschienene Stanišić-Buch direkt in die von Christiansen geführte eigene Stadtteil-Bestsellerliste eingestiegen. Der Titel ist einer zum Auswendiglernen: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“. Christiansen ist übrigens außerdem die Buchhandlung, in der Stanišić‘ Bestseller „Herkunft“ in der gebundenen Ausgabe bislang am häufigsten verkauft wurde. Deutschlandweit.

Christianskirche: Saša Stanišić scheitert öffentlich in Ottensen – und wird gefeiert

Unter diesen Voraussetzungen ausgerechnet über das Scheitern zu sprechen und dazu Texte vorzutragen, die es gerade nicht in die Öffentlichkeit geschafft haben, das hatte also erst recht Charme. Und das Konzept ging voll auf. Literarische Resterampe, Motto: „Gut genug für heute Abend“, apart und kenntnisreich moderiert von Literatur-Altonale-Chefin Nefeli Kavouras. Schnell stellte sich heraus: Selbst jene Texte von Saša Stanišić, die er in die Schublade „Scheitern“ sortiert und eigens für diese Lesung auf ein Geht-gerade-so-Level upgegradet hatte, sind ja keineswegs schlecht, nicht einmal halb schlecht, sondern in Wahrheit höchst unterhaltsam. Die Reaktionen seines Publikums bewiesen es. Was der Autor, der selbst in der Nachbarschaft lebt, mit Wohlwollen durchaus registrierte.

Saša Stanišić plauderte mit Moderatorin Nefeli Kavouras über das Scheitern in der Literatur und die Eitelkeit beim Schreiben. 
Saša Stanišić plauderte mit Moderatorin Nefeli Kavouras über das Scheitern in der Literatur und die Eitelkeit beim Schreiben.  ©  Buchhandlung Th.Christiansen  |  Buchhandlung Th.Christiansen 

Zum Beispiel das Kapitel über den jungen Saša, der sich als Kind angewöhnt hatte, absichtlich Menschen anzurempeln, um auf ihre Lebenswege einzuwirken. Was bei den Geschubsten für Irritationen sorgte. Aber welch ein poetischer Gedanke! Als Autor sei er „das schubsende Kind geblieben“, bekannte Stanišić. Jetzt laufe er eben, im übertragenen Sinne, mit seinen Büchern in die Leute hinein. „Die Biografien berühren sich.“ Saša Stanišić rempelt die Welt mit Sprache an, um ihren Lauf positiv zu beeinflussen. Was für ein schönes Bild das ist.

Hamburger Bestsellerautor Saša Stanišić: „Die schönsten Menschen sind die konzentriertesten“

Und außerdem wahr. Ohne seine Romane und Erzählbände wäre die Christianskirche an diesem Sonntagabend jedenfalls nicht so voll gewesen. Und die, die gekommen waren, hätten nichts über einen Hamster namens „Heißluftballon“ erfahren, nichts über den Nachfolge-Hamster „Bruce Willis“. Nichts auch über die Selbstplagiate, die Saša Stanišić in seinen Büchern unterliefen. „Die schönsten Menschen sind die konzentriertesten“, sei so ein Satz, erzählte er. Den habe er versehentlich gleich in zwei Werken untergebracht.

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Man lernte an diesem Abend einiges über Erzähl-Ökonomie, über größtmögliche Präzision beim Schreiben, auch über Eitelkeit. „Scheitern“ ist nämlich immer relativ: Literarische Überbleibsel haben auch nach dem Streichen eine Daseinsberechtigung – nur nicht zwingend in einem Text, in dem schon zu viele andere gute Sätze stehen. Und das Nicht-Erschienene, das Herausredigierte und Aussortierte final zu löschen, das ist zumindest diesem Autor nicht eingefallen.

Seine vermeintliche Ausschussware blieb oft über viele Jahre auf der Stanišić-Festplatte. Manchmal ganze Erzählungen, manchmal Passagen, auch einzelne Formulierungen. Dort haben die Sätze überwintert – bis zu diesem lustigen, warmherzigen, aufschlussreichen Abend auf der Literatur-Altonale.