Hamburg. Surrealer Horror: Karl Bartos‘ Neuvertonung des Kino-Klassikers „Das Cabinet des Dr. Caligari“ als Film-Konzert ist ein Erlebnis.
Ein monströs hochgerüsteter Truck brettert im mindestens zwölften Gang durch eine postapokalyptische australische Wüste, und allein der Motorenlärm aus den Dolby-Atmos-Lautsprechern fönt einem im Kinositz schon die Resthaare waagerecht nach hinten. Die Hauptfigur in George Millers „Furiosa: A Mad Max Saga“ hat in den zweieinhalb Stunden dieser gerade von Hollywood auf die Kino-Menschheit losgelassenen Materialschlacht nicht mehr als 30 Sätze zu sprechen. Alles andere regelt und erklärt die Schauspielerin Anya Taylor-Joy entweder mit ihren großen Wummen. Oder – geht auch – stumm, nur mit ihren Augen.
Stummfilm-Psychothriller: „Dr. Caligari“ spukt durch die Laeiszhalle
Seit seiner Uraufführung 1920, als Robert Wienes surrealer Horror-Trip „Das Cabinet des Dr. Caligari“ in den Berliner Lichtspielhäusern zur Stummfilm-Sensation und danach zum epochalen Meisterwerk des Kinos geadelt wurde, hat sich so viel also gar nicht geändert beim Thema Ursache und Wirkung. „Gehen Sie in ,Caligari‘“, hatte der Komponist Maurice Ravel damals gejubelt, „das Kino ist endlich erschaffen worden!“
Gut 100 Jahre später war dieser wirre Zauber mit seinen sepiagefärbten, expressionistisch schiefen Albtraum-Szenen und den rasiermesserscharfen Schattenwürfen wieder am Werk, in der nur gut ein Jahrzehnt älteren und damit als Abspielstätte ziemlich perfekten Laeiszhalle, als Vorab-Spezial-Projekt des Schleswig-Holstein Musik Festivals, das Anfang Juli regulär beginnt.
„Caligari“ war seiner Zeit visionär voraus
Unter der großen Leinwand und ganz in neutrales Schwarz getarnt, neben seinem Ton-Co-Pilot Mathias Black und vor einer eher überschaubaren Hardware-Menge, stand Karl Bartos und drückte irgendwelche Keyboard-Tasten oder Rechner-Knöpfe im Dunkel des Saals, immer genau bildsynchron und mit sichtbarer Freude.
DER Karl Bartos, ehemaliges Mitglied der längst legendären Düsseldorfer Band Kraftwerk, die schon früh verstanden und in ihren längst museumstauglichen Arbeiten perfektioniert hat, dass vermeintlich kalte elektronische Musik mit bewegten Bildern mächtig intensiver wirkt als ohne. „Caligari“ war seiner Zeit visionär voraus und sollte kommende Filmemacher-Generationen ästhetisch inspirieren; Kraftwerks Taschenrechner-Poesiealben waren es ebenfalls und hatten ähnliche Folgen für die Pop-Avantgarde. Passt.
Vom Premieren-Reinfall zum Publikumsmagnet
Weil die originale und angeblich alles andere als harmlos tönende „Caligari“-Filmmusik von Giuseppe Becce als verschollen gilt, haben im Laufe der Jahrzehnte immer wieder neue Soundtrack-Tüftler experimentiert. Sie alle wollten das somnambule Monster Cesare (ein finsterer Styling-Vorfahr von David Bowies „Thin Wite Duke“-Kunstfigur und dem frühen, bis weit über die Ohren zugedrogten Lou Reed) und seinen Dompteur Dr. Caligari, der im Hauptberuf Direktor einer Irrenanstalt ist, angemessen aus ihrem Jahrmarktszelt auf die unschuldigen Menschen – vor allem die jüngeren weiblichen in wallenden Nachtgewändern – des windschiefen Städtchens Holstenwall loslassen.
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Kleiner Treppenwitz dieser Geschichte: „Dr. Caligari“ mauserte sich erst vom Premieren-Reinfall zum Publikumsmagnet, nachdem sinnarm zusammenimprovisierte Klassik-Ohrwürmer gegen Becces Maßarbeiten ausgetauscht wurden.
Bartos‘ Soundtrack mischt sich subtil ins Geschehen ein
Nun ist also auch Bartos mit seiner Version an der Neudeutungs-Reihe und auf großer Live-Tournee, mit frisch restauriertem, lupenrein scharfem 4K-Filmmaterial über sich, und einer interessant kommentierenden Tonspur auf der Festplatte, die mehr ist als einzig eine dienstbare Klangtapete.
Bartos‘ Soundtrack, sein digital konstruiertes Orchester, in dem vieles wie abstrahierte Klone echter Instrumente hallt und orgelt und nach Geisterstimmen-Chor klingt, mischt sich aktiv, aber subtil ins Geschehen auf der Leinwand ein: knirschende Schritte hier, Jahrmarkts-Lärmen und Drehorgel-Anspielungen dort, putziges Murmeln und erstauntes Cartoon-Grunzen oder vernebelte Sprachfesten in den Dialog-Szenen. Türen quietschen, Papier raschelt, Geschirr klappert.
Mit diesen gut dosierten Zutaten, die das eigentlich ja Stumme und Historische des Films oft übertönen, moduliert Bartos‘ Computer-Opus die alte Gruselgeschichte ans Heute heran. Und lässt ganz nebenbei auch schnell vergessen, wie wacklig und laubsägegearbeitet alle Kulissen sind, die gut ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkrieges für den nur einwöchigen Dreh zusammengezimmert wurden. Wie sehr zu dick aufgetragen die Drama-Schminke damals war, wie hysterisch die Augenroll-Gesten und das Händeringen bei diesem Großvater aller Psychothriller in den Großaufnahmen übertrieben wurden.
Wann immer es besonders spooky wird und Cesare sich mit einem „spitzen Gegenstand“ über sein nächstes Opfer hermachen will, nimmt die Musik packend an Fahrt auf. Aus dem beschaulichen, anschaulichen Abspielen ganz harmlos wirkender Hintergrund-Motivchen schrauben sich dann motorisch harte, gemein pulsierende Rhythmen à la Steve Reich in den Vordergrund. Caligaris Welt war buchstäblich verrückt, Bartos‘ Musik macht diese Achterbahnfahrt durch den Irrsinn virtuos mit und legt sich dabei gekonnt in jede Kurve der Handlung, egal wie kafkaesk und wahnsinnig sie 1920 auch gewesen sein mag.
Die Vorführung wird am 6.6., 19.30 Uhr, wiederholt. Restkarten: www.shmf.deAlbum: Karl Bartos „The Cabinet of Dr. Caligari” (Bureau B, CD ca. 16 Euro, LP ca. 30 Euro).