Hamburg. Der Schöne und das Biest: Die Uraufführung von Salvatore Sciarrinos Oper in Hamburg ist radikal ungewöhnlich.
Das erste Bild zur Einstimmung: eine aschgraue Nebel-Wolken-Wand, umwabert von fahlen Tonschwaden aus dem Orchestergraben. Die Raumtemperatur: depressives Föhr Ende November statt Olymp im ewigen Sonnenschein. Mediterran sonnig oder gar herzwärmend ist hier nichts. Alles ist brüchig in diesem Stück und in seiner kargen, kalten, leer gefegten Welt und vieles uneindeutig, sie wird nur ganz knapp noch zusammengehalten.
Von den übergroßen Gefühlen ihres handelnden Personals und insbesondere den flüchtigen, geseufzten, haltlosen Klängen sowie der ebenso wichtigen Stille, die um ihre morsch-trockenen Ränder herum den schmerzhaft pulsierenden Rhythmus dieser Welt vervollständigt. Kommuniziert wird mit einem stilisierten Sprechgesang, der immer wieder stockt und taumelt.
Um die mythologischen Tiefenschichten und das Schicksalsgeflecht in Salvatore Sciarrinos neuer Oper „Venere e Adone“ angemessen zu erkennen, ist es ratsam, sich vor dem ersten gehörten Ton in der Staatsoper mit dem „Who’s who – and why?“ dieses Beziehungsdramas auseinandergesetzt zu haben. Denn anders als in der bekannteren „Metamorphosen“-Version von Ovid, die seit der Renaissance immer wieder Vorlage war, schon für Shakespeare bis zuletzt 1997 für den altersmilden Henze, hat sich dieser Komponist für eine Variation entschieden, die auf einem Text von Monteverdis Lieblingsdichter Giambattista Marino basiert. Also wieder zurückverweist in die ebenso kunstsinnige wie unbarmherzige Spätrenaissance.
Staatsopern-Uraufführung „Venere e Adone“ in Hamburg – der Schöne und das Biest
Venus (Layla Claire), als Göttin der Liebe offenbar unausgelastet und hier nur Nebensache, ist darin immer noch in den bildhübschen Adonis (strahlender Countertenor: Randal Scotting) verschossen, und der wird am Ende immer noch von einem Eber getötet. Doch für Sciarrino ist jetzt dieses arme Wildschwein, das Monster, „Il Mostro“, das zentrale, tragischste Geschöpf von allen und nicht nur eine borstige Plot-Requisite, gefangen zwischen Gut und Böse, unschuldig verliebt und schuldig verzweifelt.
Wo bin ich, was bin ich?, fragt sich die Schattengestalt immer wieder, verborgen in einer wild wuchernden Unterwelt, durch die Videofahrten aus seiner Perspektive trudeln. Der Bassbariton Evan Hughes brilliert in dieser Hauptrolle, er leidet mit und in jedem herausgepressten, waidwunden Ton. Man ahnt also von Anfang an: Das wird gar nicht gut enden für ihn.
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Der über den jungen Schönling wütende Mars hat den als blind dargestellten Amor (Kady Evanyshyn) angewiesen, einen seiner schnell wirkenden Liebespfeile in Adonis‘ Köcher zu schmuggeln; als das Monster davon getroffen wird, verliebt es sich buchstäblich rasend in seinen Jäger und zerfleischt ihn, mit dem, was er in seinem Wahn für Küsse hält.
Und am Ende, während an Adonis nur noch portionierte Statuenteile erinnern und nachdem seine Seele in das Monster fuhr und dort gefangen wurde wie das Monster in ihm, mahnt und warnt ein Dramen-Chor, aus der Schulbuch-Antike geleast, das still gespannte Publikum: „Wer triumphiert, Liebe oder Tod? Wenn die Liebe triumphiert, zerreißt sie uns alle, die Schönen und die Hässlichen.“
„Venere e Adone“ in Hamburg: Kammerspiel mit Todesfolge
Sciarrino vertonte in seiner 15. Oper, einer Auftragsarbeit für das Hamburger Haus, die grausame Anmut von Liebe als moralische Lektion und bleibt dabei seiner fein ziselierten, kleinteiligen musikalischen Handschrift treu, die längst sein Markenzeichen ist. Einzig in einer kurzen Szene wird es überraschend klassisch melodisch, als Sciarrino sich kurz aus seinem weitgehend harmoniebefreiten Idiom verabschiedet: Er zitiert aus einem Gesangsstück des Barockkomponisten Alessandro Stradella, über dessen abenteuerliches Leben und Sterben er 2017 seine Oper „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ schrieb.
Diese am Premierenende kräftig, aber eher kurz gefeierte Inszenierung formt aus Sciarrinos Erzählabsichten mit sparsamst eingesetzten Mitteln ein nur 70 Minuten kurzes Kammerspiel mit Todesfolge. Ein antikes Drama, umgesetzt von einem handverlesenen Ensemble, das keine Sekunde langweilt oder seine symbolistische Eleganz ans vordergründige Effektheischen verscherbelt.
Nachdem Staatsopern-Intendant Georges Delnon 2018 mit seinem unverständlichen Regieblick auf Beethovens „Fidelio“ mächtig danebengelegen und seinem Haus einen schmerzhaften Flop mitten im Repertoire-Zentralbestand beschert hatte, macht er in dieser Prestige-Produktion nicht nur für Feinschmecker vieles wett und alles richtig. Keine verstolperten Spielereien, sondern klare, strenge und doch empathische Charakterzeichnung.
Staatsopern-Uraufführung – radikal starke Produktion
Die Handlungsebene ist lediglich ein leerer, scheintoter Bühnenwinkel aus drei Farben Grau, maßgeschneidert von Varvara Timofeeva. Bei ihrem Regiedebüt mit Schostakowitschs „Lady Macbeth“ im Januar war die Filmemacherin von diesem Aufgaben-Paket sichtlich überfordert gewesen, der Schritt zurück in ein Team und die Konzentration auf nur einen Bereich erwies sich als bessere Entscheidung.
Und auch Generalmusikdirektor Kent Nagano ist mit ganzem Herzen tief in seinem Element, dem Erforschen und Erkunden ungewöhnlicher Partituren abseits der ganz klassischen Klassiker. Die Philharmoniker genossen bei der Premiere am Pfingstsonntag diese Herausforderung und spielten mit bezwingender Intensität und Klarheit. Die radikal ungewöhnlichste und damit stärkste Produktion mindestens dieser Staatsopern-Spielzeit.
Weitere Vorstellungen: 31.5., 3./6./8.6., 29.9., 1./3.10. Informationen: www.staatsoper-hamburg.de