Hamburg. Michel Friedmans Fremdheitserfahrungen in Deutschland werden im St. Pauli Theater zur intensiven Lesung. Mit Sätzen wie Nadelstiche.

Dieser Abend sei allen Menschen gewidmet, die „irgendwo im Nirgendwo leben“, sagt Sibel Kekilli. In einem langen schwarzen Gewand, die Haare streng zurückgebunden, steht sie auf der Bühne des St. Pauli Theaters. Dann setzt sie sich an einen Tisch und beginnt, aus Michel Friedmans Buch „Fremd“ zu lesen.

Die inszenierte Lesung vom Berliner Ensemble, eingerichtet von Max Lindemann – und Kekillis eindrucksvolles Theaterdebüt – gastiert derzeit beim Hamburger Theater Festival.

St. Pauli Theater: Michel Friedmans „Fremd“ als inszenierte Lesung von Sibel Kekilli

Ihr ebenmäßiges Gesicht mit entschlossenem, geradem Blick richtet sie geradeaus in eine Kamera, die es groß auf die rückwärtige Leinwand projiziert. Die formulierten Sätze sitzen wie Nadelstiche: „Einmal Ausländer, immer Ausländer. Assimiliert? Trotzdem Ausländer. Integriert? Trotzdem Ausländer. Emanzipiert? Trotzdem Ausländer.“

Der jüdische Autor Friedman schreibt in einer Mischung aus Distanziertheit und Künstlichkeit in reimlosen Versen von der Not einer Figur, die er „das Kind“ nennt. Das Kind ist Sohn polnischer Holocaust-Überlebender, der seine Eltern gerne glücklich sähe, aber das ist kompliziert. Die Shoah hat nicht nur sechs Millionen Juden ermordet, sondern auch den Überlebenden und Folgegenerationen Schuldgefühle und eine endlose Verzweiflung auferlegt. „Gespenster“ und „Schatten“.

Michel Friedman beschreibt, wie er ins „Land der Mörder“ zieht

Friedman beschreibt auch, wie er, in Paris geboren, zunächst staatenloser Flüchtling, mit den Eltern nach Deutschland, also ins „Land der Mörder“ zieht. Und wie er hier bis zur totalen Selbstdemütigung alles versucht, um dieses Gefühl des Außenseiter- und Einzelgängertums, der Heimatlosigkeit abzuschütteln, um dazuzugehören. Und wie das irgendwie nie so ganz gelingen will.

Sibel Kekilli, die als Schauspielerin bekannt wurde mit ihrem furchtlosen Spiel in Fatih Akins „Gegen die Wand“ und die internationale Produktion „Game of Thrones“, liest präzise in einer sehr klugen, wirkmächtigen Mischung aus Anteilnahme und Abstand, ohne Sentimentalität, aber mit viel unaufdringlicher Selbstbehauptung. Natürlich geht es nicht nur um die autobiografische Geschichte des Michel Friedman.

Sibel Kekilli liest Michel Friedman: Der Versuch, Anerkennung des Schmerzes anzumahnen

Der Text erzählt auch über „Roma, Sinti, Queere, Homosexuelle, Migranten, Flüchtlinge. Fragt, wen ihr wollt, welche Minderheit auch immer“, so die Schauspielerin Kekilli, deren Eltern türkische Wurzeln haben. Die Szene bleibt angenehm reduziert, der Fokus scharf. Selten lenken Filmprojektionen vom Geschehen ab. Manchmal untermalen zarte elektronische Klänge das Gesagte. Im Video wechseln Szenen aus dem Frankfurter Stadtleben mit einem Brandsätze werfenden Mob vor Flüchtlingsheimen.

Diese Bilder hätte es gar nicht gebraucht. Der Text wirkt auch so universell, erzählt neben Antisemitismus zugleich von Rassismus, stellt Fragen von Identitätssuche und Zugehörigkeit. Am stärksten wirkt der Minimalismus, wenn im Hintergrund nur eine Hand Kekillis vergrößert wird, oder wenn sie sich, als es um das Thema Identität geht, im Video vervierfacht.

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Die Lesung kam nach dem 7. Oktober 2023 am Berliner Ensemble heraus. Der Nahost-Konflikt findet in ihr bewusst nicht statt. „Fremd“ ist ein Versuch, Traumata und Missstände in der Gegenwart, etwa die Verdrängung der Schuld durch die Mehrheitsgesellschaft, zu benennen. Und zugleich die Erinnerung und die Anerkennung des Schmerzes anzumahnen, dessen Eindringlichkeit sich an diesem Abend niemand entziehen kann.

Das Hamburger Theater Festival bis 24.6., Programm und Infos unter www.hamburgertheaterfestival.de