Hamburg. „Emilia Galotti“ schnurrt bei Anne Lenk in knalliger Optik frisch dahin. Am Schluss kommt es anders. Aber ist es echt ein Happy End?
„Der denkende Künstler ist noch eins so viel wert“, hat der Prinz von Guastalla erkannt. Und man kann ihn da an einem insgesamt gelungenen Theaterabend ruhig mal beim Wort nehmen, auch wenn er an dieser Stelle seinem Hofmaler womöglich mit leicht spöttischem Unterton schmeichelt: Der denkende Künstler (oder eben: die denkende Künstlerin) kann nämlich Inhalt mit ästhetischer Raffinesse kombinieren und trotzdem Spaß an Slapstick und Albernheit transportieren. Auf dass dem Publikum ein Gesamtkunstwerk präsentiert wird, das unterhält und das Selbstdenken erlaubt. Denn auch das denkende Publikum ist ja womöglich noch eins so viel wert.
Wenn die begehrte Regisseurin Anne Lenk sich einen Klassikerstoff vornimmt (am Thalia Theater war das zuletzt fulminant Tschechows „Drei Schwestern“), ist all das zu erwarten. Diesmal – zum Abschluss der vorletzten Saison, bevor Lenk selbst Oberspielleiterin an diesem Haus wird – also Lessings bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ in etwas mehr als anderthalb rasanten Stunden. In denen man sich am Thalia immer wieder auch daran erfreuen kann, dass es eine weibliche Lesart ist, der sich auch der selbstgefällige Prinz hier fügen muss.
„Emilia Galotti“ am Thalia Theater: Frauen dürfen „bad bitches“ sein, Männer schamlos fragil
Aber wenn die Ästhetik so augenfällig ist wie ein ansprechend gezeichnetes Frauenporträt, sollte man – ganz wie der Prinz beim Anblick der reizenden Emilia Galotti, die ihm sein Maler skizziert hat – vielleicht ebenfalls mit der offensichtlichen Optik beginnen: Ein cleanes Operationssaalmintgrün hat Bühnenbildnerin Judith Oswald für die Greenscreen ausgesucht, vor dem Anne Lenk das Lessing‘sche Personal in einem genau abgesteckten Rahmen agieren lässt wie in einer keimfreien Versuchsanordnung.
In den pudrig-güldenen (für den Adel) oder bis in die Haarspitzen fliederfarbenen (für das Bürgertum) historisch anmutenden Fummeln von Kostümbildnerin Sibylle Wallum begegnen sich die Figuren (oder ihre Projektionen) innerhalb dieses Rahmens, bei dem immer wieder das Licht ausgeknipst wird. Wie knallige Schlaglichter wirken die Szenen in den sich permanent verschiebenden, einengenden Modulen. Das erinnert an das Tetris-Spielprinzip und ergibt einen tollen Kontrast zu den detailreichen Gewändern. Deren üppige Rüschen, Schleifen und Farbgebungen wirken davor besonders künstlich.
Die Kostümwerkstätten haben ganze Arbeit geleistet, und auch die Maske sei hervorgehoben. Das spärliche Resthaar, das der speckige Kammerherr Marinelli unter seiner aufgetürmten Perücke enthüllt, gibt ihm eine zusätzliche Schamlosigkeit.
Überhaupt, Marinelli! Der Begriff „Hosenrolle“ bekommt bei Cathérine Seifert eine eigene Dimension: Sie zwängt sich als Kammerherr in einen aufgepumpten Muskel-Fatsuit, immer mehr wird sie von der gefallsüchtigen Hofschranze zum skrupellosen Player auf eigene Rechnung.
„Emilia Galotti“: Am Ende kommt es anders als im Original von Lessing
Eine der gelungensten unter den insgesamt präzise und lustvoll gearbeiteten, nur manchmal ein wenig zu glatt daherschnurrenden Szenen ist die zwischen Marinelli und der Gräfin Orsina, die von Maja Schöne als „bad bitch“ im besten Sinne gespielt wird. Ein selbstbewusstes, offensives „Frauenzimmer, das denkt“, wie es bei Lessing heißt. Anders, als man es Emilia Galotti unterstellt, die Anne Lenk in dieser Inszenierung allerdings ebenfalls von Maja Schöne spielen lässt. Was so bravourös funktioniert, dass man es eigentlich immer so halten sollte.
Merlin Sandmeyer (der auch den blassen und bald eh toten Galotti-Verlobten Appiani übernimmt) kann vor allem als Maler punkten, gemeinsam mit Jirka Zett kostet er den gemeinsamen Dialog zur Freude des gniggernden Publikums voll aus. Schon Lessings Ehefrau Eva König hatte einst die vielen Lacher während des Trauerspiels ihres Mannes registriert, „zuweilen bei Stellen, wo, meiner Meinung nach, eher hätte sollen geweinet, als gelacht werden …“. Am Thalia ist das nicht anders.
Theater-Kritik: Jirka Zett ist ein glänzend nöliger, prätentiöser Prinz
Jirka Zett mit langem Schimmerhaar und später in einem Glanzblouson, in dem er problemlos auch auf Sylt Party machen könnte, ist ein in jeder Hinsicht glänzend nöliger, prätentiöser Prinz. Die Mauern, auf deren Verschiebung die Frauen keinerlei Einfluss haben, sind für ihn keine. Dass sein aktuelles Objekt der Begierde, Emilien, einen anderen heiraten soll, hält das fragile Bürschchen nicht aus.
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Man muss da gar nicht noch deutlicher mit Zaunpfählen winken, manche Lessing-Sätze holen einen selbstverständlich im üblen Teil der Gegenwart ab, in dem zum Beispiel ein ehemaliger US-Präsident vor Gericht seine eigene Verurteilung lächerlich macht, als seien sie als Kommentar eigens eingefügt: „Wer kein Gesetz achtet“, erkennt Emilias Vater Odoardo (Bernd Grawert), „ist ebenso mächtig, als wer kein Gesetz hat.“
Wie überaus anmaßend der Prinz (ein Typ, der „vor den kleinen Verbrechen nicht erschrickt“) seine Privilegien nicht nur nutzt, sondern diese Position durchaus reflektiert, erinnert an die infame „Grab ‘em by the pussy“-Aussage von Donald Trump. Wer ein Star ist oder reich, kann sich alles erlauben. Und wird damit durchkommen, auch wenn er auffliegt.
Emilia Galottis existenzielle Kernfrage: Wer soll ich sein?
Das gilt natürlich auch für die patriarchale Umgebung, in die Emilia, ihre Mutter Claudia (der Sandra Flubacher energische Kontur gibt) und die Orsina geworfen sind. Strukturen, die nicht zu ihrem Vorteil erdacht sind, die immer stärker sein werden als das weibliche Individuum. In die sie sich, jede auf ihre Art, einzupassen versuchen. Bis sie an die nächste Grenze stoßen, an die nächste scheinbar willkürlich den Weg versperrende Wand. „Wer soll ich sein?“ lautet stellvertretend die existenzielle Kernfrage der Emilia.
Am Ende vereint Maja Schöne beide Charaktere in sich, halb golden, halb fliederfarben, nachdem Emilia hier gerade nicht wie im Original vom Vater erstochen wird. Und wie sie darüber kurz vor dem finalen Black einmal laut auflacht, das könnte man fast als weibliche Selbstermächtigung verstehen. Oder ist es doch eher Bitterkeit, mehr als 250 Jahre nach der Uraufführung? Denn das ist ja das Perfide: In diesem System kann sie es gar nicht richtig machen.
„Emilia Galotti“, wieder am 4.6., 20 Uhr, am 8.6., 16 Uhr, am 9.6., 19 Uhr, und am 28.6., 20 Uhr, am Thalia Theater, Alstertor, Karten unterwww.thalia-theater.de