Hamburg. Mit „22 Bahnen“ gelang der Rostocker Debütantin ein Bestseller. Nun kommt die bittersüße Fortsetzung. Mit Tilda, Ida und Soft-Surfer.

  • „Windstärke 17“: Autorin Caroline Wahl veröffentlicht einen neuen Roman
  • Der Nachfolger des Bestsellers „22 Bahnen“ ist das perfekte Buch für den Sommer
  • Lesen Sie hier die Rezension der Geschichte um Tilda, Ida und Soft-Surfer Leif

Zugegeben, man muss, wenn man etwas älter ist, in sich drinnen die junge, gefühlsüberschwänglichere Version seiner selbst finden. Geschieht das und entdeckt man (als Mann in diesem Falle) überdies noch einmal den Romantiker im Gewühl der seelischen Vorgänge: Dann, ja dann ist Caroline Wahls neuer Roman „Windstärke 17“ das perfekte Buch für die jetzt einsetzende Sommersaison.

Es geht um Ida, die sensible, trotzige, verzweifelte, zerstörte, die wilde, individuelle, starke und schwache Ida, die knapp über 20 ist. Sie flieht, kurz nachdem ihre Mutter sich zu Tode gesoffen hat, aus der Kleinstadt irgendwo eher im Süden nach Hamburg. Besser gesagt, sie will nach Hamburg fliehen, dorthin, wo ihre große Schwester Tilda mit Viktor und den gemeinsamen Kindern lebt. Aber sie kommt nicht an, sie wechselt das Gleis. Der Zug ihres Lebens, um eine wahrscheinlich allzu billige Metapher zu verwenden, fährt in Richtung Rügen. Dorthin, wo sie niemanden kennt.

„Windstärke 17“ von Caroline Wahl: Rügen ist besser als Hamburg

Was nicht nur besser für die literarische Figur Ida ist; sie braucht eine komplette Auszeit von allem, ein Handy im Flugmodus und die Distanz zur Schwester, was in diesem Falle eine Distanz zu Hamburg ist. Es ist auch ein großes Glück für den Verlag Dumont, der dieses Buch verlegt. Er hat mit „22 Bahnen“, dem Debüt der in Mainz geborenen Rostockerin Wahl, im vergangenen Jahr einen überraschenden Bestseller gelandet. Wobei, war er so überraschend? Immerhin gehört „22 Bahnen“ zur Gattung der gerade stark in Mode gekommenen Pool Fiction, also Stoffen, bei denen das Schwimmen in Schwimmbädern zumindest eine so große Rolle spielt, dass die Abbildung eines Pools bzw. eines Schwimmers, einer Schwimmerin auf dem Cover unbedingt gerechtfertigt ist.

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In „22 Bahnen“, einem sehr schönen Buch über Fürsorge und Familie, Aufwachsen und Liebe, geht es hauptsächlich um Tilda. Die Mutter lebt da noch, und auch Ida, das Teenager-Mädchen, hat unter den labilen Familienbanden zu leiden. In „Windstärke 17“ rückt sie in den Mittelpunkt, denn anders als Tilda, die erst nach Berlin und dann nach Hamburg ging, blieb sie bis zum bitteren Ende bei der nie verlässlichen, bei der kranken Mutter.

Neuer Roman von Caroline Wahl: Jungstrotzender Coming-of-age-Sound

Weil sie nun allein nach Rügen flieht (und immer noch gerne schwimmt), fällt Wahls zweites Buch nun in die Kategorie „Inselroman“, ein gut verkäufliches Genre – und aus „22 Bahnen“ kann außerdem die numerische Fortsetzung „Windstärke 17“ werden. Wollen wir also an der Marketing-Freundlichkeit herummäkeln?

Die Autorin Caroline Wahl, Jahrgang 1995, steht im Wasser herum: Ganz klar die Kategorie „Interessantes Autorenfoto“!
Die Autorin Caroline Wahl, Jahrgang 1995, steht im Wasser herum: Ganz klar die Kategorie „Interessantes Autorenfoto“! © Frederike Wetzels | FREDERIKE WETZELS

Nein, wollen wir nicht. Weil auch „Windstärke 17“ durch den weltklugen und jungstrotzenden Coming-of-age-Sound besticht, mit dem Wahl in ihrem Debüt den Nerv ihrer Leserinnen und Leser traf, wobei Erstere klar in der Überzahl sein dürften. Rügen ist der sicher nicht zufällige Ort, an den es die seelisch versehrte Ida verschlägt. Eine Insel, um die das Wasser tobt (wenn die Ostsee doch tatsächlich mal so toben würde). Ida weiß es für sich zu nutzen, halbsuizidal stürzt sie sich in die Fluten, um den Schmerz zu spüren und das Meer zu bezwingen. „Jedes Mal, wenn ich ins Meer schwimme, gebe ich ihm die Möglichkeit, mich mitzureißen, mich zu töten, und es tut es nicht. Das rechne ich ihm hoch an. Dass es bei jedem Wetter so wunderschön vor mir liegt, manchmal wild tanzt und mich trotz meiner scheinbaren Respektlosigkeit nicht töten will“, bekennt die Ich-Erzählerin einmal.

Was den Schuldkomplex hinsichtlich des Todes der Mutter (hätte sie ihn verhindern können?) angeht und die Wut auf die Schwester, von der sie sich im Stich gelassen fühlt, gibt es für die angehende Autorin Ida auf Rügen Linderung. Dergestalt, dass sie endlich etwas zu Papier bringt irgendwann. Und das genau deswegen, weil sie nicht in ihrer bitteren Vereinsamung bleibt. Die Inselmenschen, in Person des Um-die-70-Rügeners Knut und seiner Frau Marianne, die Ida bei sich aufnehmen. Dabei wollte Ida lediglich als Bedienung in Knuts Dorfkneipe arbeiten.

Die Autorin Caroline Wahl gibt ihrer Heldin Rückenwind

Caroline Wahl schildert das Innenleben ihrer Heldin mit genauem Blick. Was nichts anderes heißt als: Man identifiziert sich mit der jungen Frau, die einen Verlust und die jahrelange Überforderung aufgrund einer umgekehrten Rollenverteilung erlitten hat. Außerdem scheut sich Wahl nicht, der rasanten Neusozialisierung am Nullpunkt von Idas Leben ordentlich Schub zu geben. Ida wird quasi, obwohl sie den Menschen widerborstig und reserviert gegenübertritt, erzählerisch mit Rückenwind in eine neue Familie und auch eine neue Liebe getragen.

Das Buchcovervon „ Windstärke 17“, Dumont-Verlag, 254 S., 24 Euro
Das Buchcovervon „ Windstärke 17“, Dumont-Verlag, 254 S., 24 Euro © Dumont Verlag | Dumont Verlag

Da ist der der softe Surfer Leif, der allein mit seinem dementen Großvater lebt und obendrein eine zunächst unbekannte Hamburger Existenz als Star-DJ hat. Ein ebenfalls von den Zeitläuften verletzter Zeitgenosse, der ohne Eltern aufwuchs, sich und das wiederfinden muss, das er wirklich will im Leben. Wahl beschreibt das Annähern der beiden jungen Menschen wie das widersprüchliche Aufeinanderzusteuern von zwei Teddybären, die in beiden Händen jeweils einen Kaktus tragen. Und sie macht das so gut, dass man als Leser kaum einmal das Wort „Kitsch“ in die Dünen schreien mag.

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Am Ende, wie immer in solchen Romanen, in denen es ums Erwachsenwerden und ums Lieben geht, wird die Heldin vor eine große Frage gestellt, deren Beantwortung darüber entscheidet, ob sie etwas verstanden hat vom Leben. Was in ihrem Falle heißt, dass sie auf ganz andere Weise noch einmal das Drama um ihre Mutter durchleben muss. „Windstärke 17“ ist ein vollkommen überzeugender Roman, der allein Zynikern nicht ans Herz gehen wird. Er wird die Nummer eins auf der Bestsellerliste werden, und das ist vollauf verdient.

Caroline Wahl stellt „Windstärke 17“ heute, 14. Mai, Beginn der Veranstaltung ist 19.30 Uhr, im Literaturhaus vor. Es gibt noch Streamingtickets unterwww.literaturhaus-hamburg.de