Hamburg. Das Chorwerk Ruhr gastiert unter Leitung von Florian Helgath mit Werken von Gubaidulina und Poulenc, das Publikum ist begeistert.
Ist das jetzt ein Cellokonzert – oder was sonst? Jean-Guihen Queyras sitzt jedenfalls in der Bühnenmitte, neben sich den Dirigenten Florian Helgath. Aber weit und breit kein Orchester. Stattdessen umspielen ihn, wie er in Aufwärtsglissandi den Tonumfang seines Instruments durchmisst, hohe Glöckchenklänge und, darum herumkreisend, Frauenstimmen aus dem Chorwerk Ruhr. Stille. Dann setzen die Bässe in einem klösterlichen Sprechgesang ein und lobpreisen den Herrn. Willkommen in der Elbphilharmonie, willkommen beim Internationalen Musikfest, willkommen in der Klang- und Geisteswelt von Sofia Gubaidulina. Sie hat 1997 für ihren „Sonnengesang“ einen Text von Franz von Assisi aus dem 13. Jahrhundert vertont.
Man stelle sich vor, dieses Konzert hätte vor zehn Jahren in der Laeiszhalle stattgefunden. Ein paar Hardcore-Chorfans wären gekommen und vielleicht noch ein paar Vertreter der durchaus überschaubaren Avantgarde-Community, sonst hätte kaum jemand von einem so eigenwilligen Programm Kenntnis genommen. In der Elbphilharmonie aber ist es ausverkauft. An einem lauen Sommerabend. Es bleibt erstaunlich.
In der Elbphilharmonie geht das: neue Musik, voller Saal
Ein bisschen unruhig ist es anfangs in den Rängen. Aber je weiter Gubaidulina den Raum ihrer Himmelsklänge öffnet, desto mehr zieht die Musik die Menschen in ihren Bann. Queyras ist dabei nicht nur Solist, sondern gewissermaßen auch Reiseführer. Welche Motive er auch spielt auf seinem Cello, sie sprechen zu den Zuhörerinnen und Zuhörern. Und ein geübter Performer ist er ganz offensichtlich auch. Der Bühnenwirkung seiner sparsamen Bewegungen bewusst schlägt er die große Trommel und spielt mit dem Kontrabassbogen auf einer Art singender Säge oder stimmt die unterste Cello-Saite mal kurz einen Halbton tiefer. Und das alles in mühelosem Kontakt mit den beiden Schlagwerkern von Elbtonal Percussion, dem Celesta-Spieler Sebastian Breuing, Helgath und dem Chor.
Gubaidulinas Klangzauber hat so gar nichts Kuscheliges. Aus jedem Ton spürt man die tiefe Religiosität und Spiritualität der Komponistin. Die Körperlichkeit der Hörerfahrung mag darauf beruhen, wie raffiniert Gubaidulina die Obertöne miteinbezieht und dadurch den Chorklang aufspannt wie ein unsichtbares Riesenzelt.
Elbphilharmonie: Gubaidulina spannt den Chorklang auf wie unsichtbares Riesenzelt
Ganz am Anfang bangt man ein wenig mit dem Ensemble, als kämen die Einsätze nicht mit letzter Sicherheit. Aber sehr bald schleudern die Sängerinnen und Sänger furchtlos die dissonantesten Akkorde und gänzlich unerwartete harmonische Wendungen in den Saal.
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Nach der Pause singt der Chor a cappella die Kantate „Figure humaine“ („menschliches Antlitz“) von Francis Poulenc aus dem Jahre 1943. Sie ist stimmlich ein Hochseilakt, die Tonlagen sind extrem, das rhythmische Gewebe ist vertrackt. Und sie ist ein poetisches Manifest. Der Chor singt das Stück virtuos, hervorragend textverständlich und mit spürbarer innerer Beteiligung. Das letzte Wort, von den Sopranen in stratosphärischer Höhe gesungen, heißt „Liberté“, auf Deutsch „Freiheit“. Ein Fanal. Im Saal gibt es kein Halten mehr.