Hamburg. Sie ist schüchtern ganz groß: Die Folkmusikerin Adrianne Lenker spielte auf Kampnagel. War zauberhaft, selbst als es um Urinieren ging.

Das musste man schüchtern nennen, und es war fraglos niedlich: Wie Adrianne Lenker auf der Bühne ständig kicherte. „Schulmädchenhaft“ ist ein Wort, das gottlob aus der Mode gekommen zu sein scheint. Die 32-Jährige wirkte gleichzeitig schüchtern und aufgedreht. Dass das auch Jungs und Männer sein können, hatte ihr Kollege und guter Freund Nick Hakim vor ihr unter Beweis gestellt. Er gab an diesem denkwürdigen Dienstagabend auf Kampnagel den Support für den Indie-Folk-Star Lenker, den gerade alle lieben, die einen Softspot für tief empfundene Seelenlyrik und zarte Akustikgitarren-Sounds haben.

Hakim war schon beinah, also tatsächlich nur beinah auf lachhafte Weise scheu, als er seine Fragile-Männlichkeit-Barjazz-Etüden („Please take me as I am,/I‘m not perfekt, but I‘m searching“) ganz piano in die große Kulturfabrik-Halle träufelte. Das war ganz toll. Später kam er, der durchaus entscheidend an Lenkers neuem Album mitgewirkt hat, noch mal für etliche Lieder auf die Bühne. Um Lenker auf dem Klavier zu begleiten, was deren Liedern ja eine kolossale Abrundung gibt; „Real House“, ein Stück von jenem neuen Album „Bright Future“, war live nichts weniger als eine Offenbarung.

Adrianne Lenker in Hamburg: Neue Solo-Nummern und Big-Thief-Klassiker

Das galt für das ganze Konzert, bei dem eine im Übrigen fantastische Gitarristin ihre Solo-Nummern und auch manche ihrer in Indiekreisen verehrten Band Big Thief auf betörende Weise dem andächtig lauschenden Publikum darbot. Das Stück „Born For Loving You“ widmete sie ihrem Girlfriend und pfiff beim Vortrag fröhlich. Dann mischte sie noch Whitney Houston (oder Dolly Parton?) hinein, und jeder fand es, wie überhaupt alles an diesem Konzert, wieder ganz toll.

Der Big-Thief-Song „Simulation Swarm“ wurde euphorisch begrüßt, die Vermissungs-Ode „Zombie“ auch („Sleep paralysis, I sworn I could‘ve felt you there/And I almost could‘ve kissed your hair/But the emptiness withdrew me/From any kind of wishful prayer“).

Adrianne Lenker auf Kampnagel: Alles muss raus, nicht nur die Emotionen

Und als die mit Stetson und gutem Schuhwerk auf einem Hocker sitzende Lenker („Ich werde auf der Bühne immer noch nervös“) zuerst davon sprach, soeben beim Singen gerade noch so ein Rülpsen unterdrückt zu haben – kurz vorher hatte sie Kohlensäure zu sich genommen, ihr Pianist war schuld –, ahnte man schon: Jetzt könnte aus Nervosität „too much information“ und anschließend das Völlige-Fahrenlassen-aller-Schüchternheit werden.

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So kam‘s, das Nächste, was Lenker kundtat, war: Sie hat sich auf der Bühne auch schon mal eingenässt. Vulgo: sich in die Wäsche gepinkelt. Alles muss raus, nicht nur die Emotionen. Man lachte mit Adrianne Lenker, und ihre explizit geäußerte Sorge (killt das jetzt die Romantik der Veranstaltung?) konnte man ihr nehmen. Schon mit dem nächsten Song zählte allein die Schönheit der Performance.

Auch schüchtern kann man ganz groß sein, das lehrte das wunder-, wunder-, wundervolle Konzert der begnadeten Folkmusikerin und Selbsterkunderin Adrianne Lenker in Hamburg.

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