Hamburg. Vladimir Jurowski und das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielen beim Musikfest mit beängstigender Intensität. Manche gehen trotzdem.
Das Internationale Musikfest Hamburg hat einen Haken. Sein Motto „Krieg und Frieden“ eignet sich leider herzlich wenig für Menschen, die einfach nur mal den Großen Saal der Elbphilharmonie gesehen haben wollen. Jedenfalls dann nicht, wenn man das Motto so ernst nimmt wie das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und sein Chefdirigent Vladimir Jurowski. Ihr Programm verlangt Zuhören und innere Beteiligung. Darunter geht es nicht.
Elbphilharmonie: Jurowski dirigiert beim Musikfest nicht weniger als ein klingendes Manifest
Bohuslav Martinůs Tondichtung „Mahnmal für Lidice“ – das tschechische Dorf wurde 1942 von den Nationalsozialisten zerstört, seine Einwohner ermordet – bringt den Schrecken des Krieges in die Gegenwart dieses Frühlingsabends. Mit einem Gurgeln des Klaviers öffnet der erste Akkord seinen Schlund und zieht einen förmlich in die Tiefe. Klangblöcke wechseln sich mit Klagegesängen einzelner Instrumente von erschütternder Einsamkeit ab.
Der Holzbläsersatz klingt bisweilen inhomogen, viele Tutti-Einsätze sind nicht perfekt zusammen, Schlüsse fransen aus. Und trotzdem gelingt es Jurowski bereits hier, eine Spannung zu erzeugen, die das ganze Stück und sogar den ganzen Abend überwölben wird.
Diese Spannung erträgt es allerdings nicht, dass irgendwo in Etage 16 ein Handy bimmelt und die Menschen raushusten, was ihnen gerade im Halse steckt. Als just vor dem Einsatz zu Josef Suks „Meditation über den altböhmischen St.-Wenzels-Choral“ im Parkett noch Sitze klappen, nimmt der Dirigent die Arme wieder herunter und dreht sich nach der Störquelle um. Das ist einer dieser Fremdschäm-Momente, für die die Elbphilharmonie durchaus bekannt ist.
Geiger Christian Tetzlaff geht mal wieder voll ins Risiko
Nach Martinůs „Mahnmal“ ist die elegische „Meditation“ fast eine Erlösung. Am Ende formen die Geigen einen Himmelsklang, und die Kontrabässe erden ihn mit zarten Akkorden. Suk wusste als Geiger genau, was Streichinstrumente alles können. Seine „Fantasie“ für Violine und Orchester wird ein Fest an Farben, Virtuosität, Stimmungen. Der Solist Christian Tetzlaff wirft sich mit jeder Faser in die Musik. Es kann einem schier angst werden bei all den Läufen und Doppelgriffen und vor allem bei Tetzlaffs Ausdruckswillen. Dabei hört man Material, Geräusch und auch mal einen verrutschten Spitzenton. Musik ist eben etwas Körperliches.
Nach der Pause dann der Gegenpol: Eine Stunde lang leuchtet Schostakowitschs Achte die Abgründe von Angst und Trauer aus. Einer inhaltlichen Zuschreibung hat sich der Komponist wohlweislich enthalten; zur Entstehungszeit 1943 war er beim sowjetischen Diktator Stalin schon in Ungnade gefallen.
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Aber 2024 kann man kaum anders, als in den schneidend hohen Passagen, dem Trommelgeknatter und den grellen Blechfanfaren ein Kriegsrequiem zu hören. Das Orchester hat zu einem beängstigend intensiven Gesamtklang gefunden. Nach dem ersten Satz mit seiner immer dichter werdenden Verzweiflung brandet munterer Applaus auf. Und wird nachdrücklich niedergezischt.
Jurowski schafft es, die Atmosphäre darüber hinwegzuretten. Sogar darüber, dass immer wieder Besucherinnen und Besucher während der Sinfonie den Saal verlassen. Die vielen aber, die mit Herz und Verstand dabei waren, haben nicht weniger als ein klingendes Manifest erlebt.