Hamburg. Leihfrist statt Flatrate: Junge Menschen stöbern sich durch Hamburgs Videotheken. Die Rettung eines tot geglaubten Geschäftsmodells?
Junge Menschen mit Stöber-Laune in der Videothek – ja, hat denn da einer zurückgespult? Ganz und gar nicht. Wer junge Hamburgerinnen und Hamburger mit einem Stapel DVDs unter dem Arm vorbeieilen sieht, beobachtet sogar ein höchst gegenwärtiges Phänomen. Tatsächlich berichten die wenigen übrigen Videothekare der Stadt von einem neuen, jungen Publikum. Immer mehr Menschen, die sich eigentlich zur Netflix-Hauptzielgruppe rechnen lassen, ziehen die „echte“ Scheibe den Streamingdiensten vor.
Videotheken trotzen in Hamburg Netflix & Co.
Verwundert sind die Videothekare von dem Trend kaum. Die Rückbesinnung auf DVD und Blu-Ray hat nämlich einen ganz praktischen Grund: Zwar gibt es reichlich Streaminganbieter von Amazon Prime über Netflix bis Sky, doch versprechen diese mehr Filmfülle, als sie tatsächlich anbieten.
Für alle, die sich auch mal einen Klassiker reinziehen möchten, führt kaum noch ein Weg an der Videothek vorbei. Das gilt nicht allein für Arthouse-Afficionados, die sich für das Frühwerk von Hinz und Kunz oder den Stummfilm von Annodazumal begeistern. Selbst namhafte Klassiker wie „Citizen Kane“, „Einer flog über das Kuckucksnest“ oder „Die Truman Show“ sind derzeit in keinem einzigen Streamingabo auf dem deutschen Markt verfügbar.
Deshalb sind die Letzten nun wieder die Ersten. Florian Platt zum Beispiel hat von manchen Klassikern so viele DVDs vorrätig, er würde gern mal wieder ein paar loswerden, erzählt er. Platt arbeitet in einem der letzten Refugien sogenannter optischen Medien, in der Movie-Star-Filiale Video-Center, in Sichtweite des Bahnhofs Barmbek. Wenn der Verkäufer die Videothek wochentags um 12 Uhr aufschließt, springen sogleich einige Wartende von einer nahe gelegenen Parkbank auf und verschwinden schnurstracks im Filmparadies. Klar, einige biegen sofort in die Erotikabteilung. Andere schreiten fachsimpelnd die Actionfilm-Auswahl ab.
Netflix hat ein Problem: „Gute Filme gibt es immer weniger“
„Die jungen Leute wollen ja nicht nur ,Stranger Things gucken‘“, sagt Platt. „Die interessieren sich auch für Filme. Und gute Filme gibt es immer weniger bei den Streaming-Anbietern – aber wir haben die Klassiker hier.“ Weil die DVD- und Blu-Ray-Verkäufe so stark eingebrochen sind, würden einige ehemalige Kassenschlager ohnehin nicht mehr auf Scheibe gepresst. Die Einzigen, die die Filme dann noch anbieten können, sind Videothekare. Das ist auch der Grund, weshalb Saturn- oder Gamestop-Mitarbeiter ihre fragenden Kundinnen und Kunden hin und wieder in die Videothek an der Fuhlsbütteler Straße schicken. Die hat schließlich mehr als 15.000 Titel im Verleih.
Außerdem: Statt vier oder fünf Abos zuzüglich Superschnell-Internet zu zahlen, „ist es doch viel einfacher, herzukommen und einen Film für einen Euro zu leihen“, so Platt. Der Hamburger schätzt es, dass junge Menschen, die oftmals noch nie eine Videothek von innen gesehen haben, das Video-Center besuchen. „Wer hierher kommt, ist garantiert überrascht, welchen Film er findet“, verspricht der Mitarbeiter. Selbst eingefleischte Filmfestivalbesucherinnen und -besucher könnten hier noch Schätze entdecken.
Video-Center Barmbek: Hälfte des Geschäfts sichern Erotikfilme
Dass in der Videothek trotz der Wiederkehr einiger junger Leute nicht mehr Goldgräberstimmung herrscht, wie es in den 80er- und 90er-Jahren der Fall war, daraus macht Platt keinen Hehl. Den „großen Knick“ im Videothek-Geschäft, wie er sagt, hätten aber nicht die Streaminganbieter zu verantworten. „Das war eindeutig, als die CD- und DVD-Brenner erschwinglich und das Internet schneller wurde“, so Platt. Tausende Videotheken mussten infolgedessen aufgeben, von ehemals fast 5000 der Geschäfte in ganz Deutschland sind laut Bundesverband Audiovisuelle Medien (BVV Medien) heute noch rund 50 übrig.
Von den zehn Dependancen in und um Hamburg, auf die Inhaber Arivert Masuhr einmal stolz war, bleibt heute lediglich jene in Barmbek. Das Leih- und Kaufsortiment oder Movie-Star-Filiale spricht seither vor allem Stammkundinnen und Stammkunden an. Etwa die Hälfte der Einnahmen sichere das Geschäft mittlerweile durch den Verkauf und Verleih von Erotikfilmen, so Platt.
Filmgarten hofft auf „Zukunft für so chaotische Läden wie wir es sind“
Umso härter waren die vergangenen Jahre für den Filmgarten an der Hoheluftchaussee, erzählt Mitarbeiter Jörg Pflaumbaum. Die Videothek, die mittlerweile auch Bücher und Tonträger verleiht und verkauft, hat nämlich keinen einzigen der pikanten Streifen in seiner 17.000-Filme-Sammlung.
Auch im Filmgarten erfreuen sich die Mitarbeiter aber seit einigen Jahren am jünger werdenden Publikum. „Der Ruf der Streaming-Anbieter nimmt gerade stark ab“, sagt Pflaumbaum, „weil die Leute merken, dass viele Sachen nicht mehr oder gar nicht verfügbar sind.“ Dass immer mehr junge Filmfans das Geschäft besuchen, „bedeutet vielleicht eine Zukunft für so chaotische Läden wir wir es sind.“
Chaotisch, das ist eher untertrieben. Im Stöberparadies Filmgarten, vor 25 Jahren als Arthouse-Verleih entstanden, stapelt sich „Der Soldat James Ryan“ auf „Shaun das Schaf“ auf „20 Minuten Workout Aerobic“. Wer sich traut, darf mit der Taschenlampe Tausende weitere Titel im Keller durchforsten.
DVD und Blu-Ray: Die Notwendigkeit treibt junge Leute in Videotheken
„Ich merke, dass immer wieder Leute reinkommen und einen bestimmten Film haben wollen“, erzählt Pflaumbaum, der den Laden gemeinsam mit Co-Inhaber Kilian Krause führt. „Die suchen das skurrilste Zeug, weder Hochwertiges noch Seltenes. Das hat auf jeden Fall zugenommen.“ Es mache den Leuten Angst, dass die Angebote der Streamingplattformen ganz offensichtlich nicht auf ewig gelten, vermutet er. Selbst, wer einen Film einzeln digital kauft, gehe schließlich nicht sicher, ihn auch dauerhaft abrufen zu können. Bei physischen Medien wie einer DVD oder Blu-Ray sei das ganz anders.
Trotzdem grenzt er das DVD-Revival vom Comeback der Schallplatte deutlich ab. Letztere sei aufgrund eines von jungen Menschen wahrgenommenen „Coolness-Faktors“ wieder in Mode gekommen. Sie vermittle einen gewissen Retro-Charme. DVDs, Bluray-Discs sowie die nötigen Abspielgeräte seien im Vergleich zu Vinyl und Plattenspielern einigermaßen unsexy. Vielmehr treibe die reine Notwendigkeit junge Menschen in Videotheken. Was hier noch unentdeckt in den Regalen steht, ist oftmals nicht (mehr) in digitaler Form erhältlich.
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Videotheken in Hamburg: Vorteile, die sich nicht digitalisieren lassen
Und nicht zuletzt böten die Cineasten-Kleinode Vorteile, die sich beim besten Willen nicht digitalisieren ließen, sagt Pflaumbaum: fachmännische Beratung statt Algorithmus-basierter Vorschläge und einen Treffpunkt mit echtem, menschlichem Austausch zwischen Filmfans.
Ob die neu gewonnene junge Zielgruppe den Videotheken die Existenz sichert? „Wir sind da optimistischer als noch vor ein paar Jahren“, meint der Videothekar. Und selbst wenn der Trend wieder abreiße, bedeute auch das nicht das Ende des Geschäfts: „Wir haben uns doch schon so ans Sterben gewöhnt. Das Sterben gehört bei uns seit 25 Jahren dazu.“ Filmgarten bleibe Filmgarten, so sei das eben.