Hamburg. Fast alle gucken Filme und Serien nur noch online. Doch ein kleiner Kundenstamm meidet Netflix & Co. Über eine fast vergessene Branche.

„DVD, Blu-ray, Games, Erotik“ prangt in großer Schrift draußen am Schaufenster. Die Eingangstür steht offen. Hereinspaziert ins Movie Star-Video-Center an der Fuhlsbüttler Straße in Barmbek. Es ist, als ob jemand in einer Zeitmaschine die Rückspultaste gedrückt hätte. Nicht für ein Jahr oder zwei, sondern eher für zehn und mehr. Drinnen sind gleich vorne aktuelle Top-Filme auf einem Ständer drapiert, Tausende weitere Titel stehen auf Regalen an den Wänden rundherum.

Es gibt Kategorien wie „Tipp der Mitarbeiter“, „Action“, „Spielfilm“ oder „Lustig“. Für das Erotikangebot muss man ins Untergeschoss. „Wir haben mehr als 15.000 Artikel im Verleih“, sagt Florian Platt. Von seinem Platz aus, hinter dem Kassentresen, hat er den ganzen Raum im Blick. Viel ist nicht los, an diesem Nachmittag. Aber es sind immer Kunden da. Meistens Männer.

Videothek als Rettung an einem verregneten Sonntagnachmittag

Sich einen Film auszuleihen, gehörte lange zum Alltag vieler Menschen. Nicht selten war der Besuch in der Videothek um die Ecke die Rettung an einem verregneten Sonntagnachmittag. Der Wortwechsel mit dem Videothekar ein wichtiger menschlicher Kontakt. Und die unvermeidliche Porno-Ecke der Gipfel des Verrufenen. Tempi passati. Im Zeitalter der Digitalisierung mit Anbietern wie Netflix, Amazon & Co gucken fast alle online. Stichwort: Video on Demand. Dazu kommt, dass auch die öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender ihre Programme komplett ins Netz stellen.

Die Videothek
Die Videothek "Movie Star" an der Fuhlsbüttler Straße © Marcelo Hernandez

Mit dramatischen Folgen für die Branche. „Als ich hier angefangen habe, gab es in der Straße drei Videotheken“, sagt Florian Platt. Das war vor gut zehn Jahren. Jetzt ist der Laden in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Barmbek eine der allerletzten Videotheken in Hamburg. Wobei der An- und Verkauf von Filmen inzwischen die wichtigere Einnahmequelle ist.

Überbleibsel eines Booms, der so schnell kam, wie er ging. Die Umsätze in der Branche sind seit Jahren im Sinkflug, ebenso wie die Zahl der Videotheken. Lange hatte sich noch die kleine Videothek Video Rent in Fuhlsbüttel gehalten. Seit Mitte des vergangenen Jahres ist auch sie geschlossen, der Laden wird nun als Kiosk weiterbetrieben.

Von zehn Movie-Star-Filialen gibt es noch eine

Um so überraschender ist, dass die Geschäfte im Barmbeker Video-Center offenbar laufen. „Der Markt hat sich enorm gewandelt, aber wir sind nicht unzufrieden“, sagt Arivert Masuhr, Inhaber der Movie Star GmbH & Co. Der Hamburger hat vor 40 Jahren in Bergedorf seine erste Videothek eröffnet. In besten Zeiten betrieb er mit Dutzenden Mitarbeitern zehn Filialen in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Als die Kunden wegblieben, machte er eine nach der anderen zu.

Erotik-Filme machen 40 Prozent des Verleihs aus

Zuletzt hat er die Videothek an der Osterstraße in Eimsbüttel geschlossen. Lange gab es dort einen Räumungsverkauf, demnächst soll das Gebäude abgerissen werden. Die Movie Star-Filiale in Barmbek ist der letzte Standort der Kette. „Die Corona-Pandemie war ein Einbruch, aber inzwischen steigen die Umsätze wieder“, sagt Masuhr.

Nach seinen Angaben macht Erotik etwa 40 Prozent des Verleihs aus. Im Moment beobachtet er allerdings noch etwas anderes. „Es gibt so etwas wie einen Gegentrend“, sagt der 70-Jährige. Immer häufiger kämen junge Leute, die noch nie in einer Videothek waren, um sich am Regal einen Film auszusuchen und für ein paar Euro zu leihen.

Filmgarten: mehr Filme als Netflix

Ganz ähnlich und doch anders läuft es einige Kilometer entfernt im Laden von Kilian Krause und Jörg Pflaumbaum an der Grindelallee. „Der Filmgarten ist keine typische Videothek“, sagt Krause. Aktuelle Blockbuster, Reality-Serien oder Pornos gibt im Filmgarten nicht. Dafür Arthaus-Streifen, seltene Raritäten und eine große Auswahl an Hamburg-Filmen von Große Freiheit Nr. 7 bis Gegen die Wand – insgesamt 17.000 Titel zum Leihen.

„Wir haben mehr Filme als Netflix“, sagt der 58-jährige Maschinenbau-Ingenieur, der den Filmgarten 2010 übernommen hatte. Wer in den Laden im Grindelviertel kommt, sucht Filme mit gehobenen Niveau. Die meisten sind Stammkunden. Für vier Euro kann man die Schätze ausleihen. Wie viel sich damit noch verdienen lässt? Darüber schweigen die Inhaber.

„Eigentlich müssten wir von der Kulturbehörde unterstützt werden

Längst ist das Verleihen von Filmen auch bei ihnen nur noch ein Teil des Geschäfts. Mehr Geld verdienen die Geschäftspartner mit dem An- und Verkauf von Videos, CDs, Schallplatten und Büchern im Internet. Aktuell ist jeder Zentimeter der Verkaufsfläche im Laden an der Grindelallee bis unter die Decke vollgestellt – der Keller muss nach einem Wasserschaden saniert werden.

In einer Ecke betreibt Krause zudem noch einen Computer-Reparaturservice. Die meisten Männer und Frauen, die an diesem Tag in den Laden kommen, wollen allerdings in der angeschlossenen Paketstelle etwas abgeben oder abholen.

„Uns gibt es noch, weil wir früh genug umgeschaltet haben“, sagt Jörg Pflaumbaum, der aus der Musikbranche kommt. Für ihn geht es um mehr als ums Geldverdienen. „Wir sind oft die letzte Chance, etwas zu sehen, das es bei den großen Plattformen nicht mehr gibt.“ Aus Sicht der Filmgarten-Betreiber sind Videotheken inzwischen auch ein Kulturgut. „Eigentlich müssten wir von der Kulturbehörde unterstützt werden“, sagt er mit Blick auf die Hamburger Öffentlichen Bücherhallen, die weiterhin ein Angebot an Leihfilmen haben.

Videotheken als Kunstprojekt

Ein anderer, der die Videothek der frühen 1980er Jahren zu Kunst macht, ist der Hamburger Medienkünstler Thorsten Wagner. Im Rahmen seines Projekts Soyuz Apollo hatte er im vergangenen Oktober im Foyer des Metropolis-Kinos eine Videothek mit antiquarischen Videokassetten aufgebaut. Ein Archiv mit mehr als 4000 beispielhaften Trägern der Formate VHS, Betamax, Video 2000. Mit dabei der James-Bond-Streifen Goldfinger, die Horrorfilm-Reihe Halloween und der Italo-Western-Klassiker Zwei glorreiche Halunken mit Clint Eastwood.

„Die Besucher konnten sich die Filme am Regal aussuchen“, sagt der Künstler. Es gab einen VHS-Rekorder, einen Röhrenfernseher und vier Sessel, für die man ein zweistündiges Zeitfenster reservieren konnte – ganz, als wäre es das Jahr 1982. Motto: Werden Sie Ihr eigener Programmdirektor mit dem Videoprogramm Ihrer Wahl. Die Resonanz war positiv. Mitte April wird es eine Neuauflage des Projekts geben, dieses Mal im Gängeviertel.

Noch 50 Videotheken in Deutschland

Von einer Renaissance sind die Videotheken allerdings weit entfernt. In den 1980-er Jahren gab es in Deutschland fast 5000 Videotheken. 2009 waren es nach Zahlen des Statistikportals Statista nur noch etwa die Hälfte, zehn Jahre später noch 345. Aktuell sind es laut Bundesverband Audiovisuelle Medien (BVV Medien) noch etwa 50 bundesweit.

Eine Studie des Verbands aus dem Jahr 2018 zeigt, dass die Zahl der Kunden in Videotheken von 2016 auf 2017 um 43 Prozent auf 2,1 Millionen gesunken ist. Aktuellere Zahlen liegen nicht vor. Aber klar ist, dass Corona den Rückgang noch einmal beschleunigt hat. Im vergangenen Jahr haben etwa in Berlin und Dortmund die letzten Videotheken geschlossen.

Auch beim Interessenverband des Video- und Medienfachhandels (IVD) mit Sitz in Hamburg gibt es keine Branchendaten. Und nicht nur das. Die einst mächtige Branchenvertretung, die in früheren Jahren mit ständig wachsenden Verleih- und Umsatzzahlen brillierte, löst sich gerade selbst auf. „Nach 40 Jahren ist Ende März Schluss“, sagt Noch-Geschäftsführer Uwe Kaltenberg, der parallel auch den Bundesverband Erotik Handel führt. Der Aderlass ist enorm. Gerade mal 46 Mitglieder hat der IVD aktuell noch – es waren mal bis zu 3600.

Kommen Film-Liebhaber zurück in die Videothek?

Für die, die bis jetzt überlebt haben, sieht Kaltenberg allerdings durchaus Chancen in der Nische. „Es gibt immer Kunden, die die Auswahl vor Ort und die Beratung schätzen.“ Dazu kommt eine andere Entwicklung: Weil viele Produktionsfirmen ihre Filme inzwischen nicht mehr über die großen Plattformen, sondern selbst vermarkten wollen, wird es für die Kunden gerade wieder unübersichtlicher. „Viele wollen nicht für jeden einzelnen Anbieter ein neues Abo abschließen.“

Im Barmbeker Video-Center lässt sich das schon beobachten. Thomas School kommt regelmäßig aus Hamm, um Filme auszuleihen. „Das Angebot im Internet erschlägt mich. Ich finde es gut, wenn ich hier aus einer Auswahl aussuchen kann“, sagt der ehemalige Bühnentechniker. Er guckt vor allem Klassiker, aber auch mal Pornos. Ältere Streifen gibt es schon für einen Euro am Tag, Neuheiten ab 1,75 Euro. Alles ohne Aufnahmegebühren und Mitgliedsbeiträge. Die Preise sind in Ordnung, findet School. „Es geht ja auch darum, kleinere Läden zu unterstützen.“

Er hat an diesem Tag zwei DVDs zurückgegeben. Mitarbeiter Florian Platt stellt die Streifen ins Regal. Bei der Frage, wie viele Filme am Tag ausgeliehen werden, schweigt er. „Aber er beobachtet eine vorsichtige Rückbesinnung. „Viele freuen sich darüber, dass es uns noch gibt“, sagt er und berichtet von einer jungen Frau, die vor einiger Zeit in die Videothek gekommen war. Nachdem er ihr erklärt hatte, wie das mit Ausleihen von Filmen funktioniert, sei sie völlig begeistert gewesen – über das einzigartige Angebot.