Hamburg. Mit „Ich vs. Wir“ veröffentlicht die Hamburger Band nach fünf Jahren Pause ihre fünfte Platte. Wir stellen die neuen Stücke vor.
„Wir haben uns echt angestrengt. Das muss jetzt auch mal raus“, ruft Marcus Wiebusch von der Bühne der Honigfabrik herunter. Vor genau 30 Jahren hat er in dem Wilhelmsburger Kulturzentrum seine ersten Konzerte gespielt. Doch an diesem Mittwochabend geht es für den Songschreiber, Sänger und Gitarristen mit seiner Band Kettcar weniger zurück, sondern vielmehr mitten hinein in die Gegenwart.
Vor rund 300 Fans, die die Karten wegen der hohen Nachfrage per Verlosung kaufen konnten, feierte die Band ihr neues, fünftes Album „Ich vs. Wir“. Und dass das Quintett seinen Normalo-Look aus Schwarz und Jeans mittlerweile perfektioniert hat, scheint wie ein Ausrufezeichen: Es geht um Inhalte, nicht ums Image.
Raus aus dem Muff
Nun lässt sich diskutieren, wobei sich der Popkünstler dieser Tage mehr anstrengen muss: Beim Verfassen von chartstauglichen Wohlfühlsongs und dem Soundtrack zur Großen Koalition der vergangenen Jahre, Musik also, von der manche behaupten, sogar Affen könnten eigentlich derlei zusammenbauen? Oder beim Finger-in-die-Wunde-Legen, beim Nachdenken und Nachfühlen, beim Komplex- und Kantig-Sein? „Ich vs. Wir“ fällt definitiv in letztere Kategorie. Und das Hören wirkt (trotz oder wegen des Pathos, darüber darf gestritten werden) wie eine große Durchlüftung. Raus aus dem Muff, rein in den Rock.
Und mit ihm in den Diskurs? Ja, bitte. Gemeinsam mit Gitarrist Erik Langer, Bassist Reimer Bustorff, Keyboarder Lars Wiebusch und Schlagzeuger Christian Hake lotet Wiebusch unser Leben aus – in diesem Land, im eigenen Viertel, im Verein, in der Blase (oder außerhalb von ihr). Was bleibt als anständige Alternative zwischen Egomanie und Massengegröle, zwischen Überforderung und dem Wunsch nach Teilhabe?
Kettcar ist nah dran, mitunter schmerzhaft genau auf den Punkt. Was bleibt, ist Hoffnung. Und Humor. „Wenn Kettcar ein Stadtteil wäre“, sagt Wiebusch, „wären wir wie Wilhelmsburg: bisschen assig, aber auf dem Weg nach oben.“
--------------------------
Ankunftshalle
„Es war einer dieser Zyankali-Tage/ An denen wir uns mal wieder umbringen wollten.“ Ein Vers wie ein Faustschlag. Wenn ein Song, ja ein ganzes Album mit solchen Worten beginnt, ist klar: Hier wird nicht wohlfühlend gekleckert, hier wird existenziell geklotzt. Sehr gut. Schön hoch ist die Fallhöhe: Die den Glauben an die Menschheit verloren haben, die in eben diesen Zyankali- Tagen hängen, setzen sich – zur seelischen Rettung – in die Ankunftshalle am Flughafen und beobachten jene, die sich vermissten und umarmen. Mit derlei Bildern beginnt auch die romantische Komödie „Love Actually“. Doch das macht ganz und gar nichts. Denn das urmenschliche Grundgefühl stimmt, ob nun von Hugh Grant oder von Marcus Wiebusch erzählt: Der Mensch ist ein Verbindungstier. Er hasst viel, aber liebt noch mehr. Und vor dem geistigen Auge sehen wir auch jene, die nicht aus dem Urlaub oder von einer Geschäftsreise heimkehren, sondern vor einem Krieg fliehen, zu ihrer Familie nachziehen. Eine Hoffnung.
Wagenburg
Der zentrale Song auf dieser Platte, die „Ich vs. Wir“ heißt und am Ende offen lassen muss, was denn besser (oder eher weniger schlimm) ist: Der Innerlichkeit suchende Teutone, der sich optimieren will und die Menge meidet, sich manchmal aber immerhin an einer Online-Petition beteiligt. Oder genau jene Menge, die zum Sturm auf die Bastille bläst, die „auch mal etwas tun“ will, aber dann nun mal das Falsche: „Besorgte Bürger“, die mit anderen besorgten Bürgern aus vielen Ichs ein Wir machen – „und dann die Wagenburg formieren“. Deutschland im Jahr 2017: Montagsmarsch, Pegida, „ein Wir ist Volk, Nation, Gesinnung, ist Gang, ist Mob und hängt Verräter“. Hier gruselt es einen angesichts der gesellschaftlichen Momentaufnahme: Individualität als Autismus, Gemeinschaft als Bedrohungsszenario. Wenn überall das Ego regiert, gehen Empathie und Engagement für andere verloren. Wagenburg ist ein anderes Wort für Isolation, und „Ich bin das Volk“ bringt vielleicht am bündigsten auf den Begriff, wie das ist mit dem Ich und dem Wir.
Trostbrücke Süd
„Wenn du das Radio ausmachst/ Wird die Scheißmusik auch nicht besser“ – hm. Man weiß, dass viele lächelnd mitsummen werden, klar, Scheißmusik, Radio, versteh schon. Nun ist es aber so, dass die Musik, die wir alle so gerne hören, eben nicht im Radio läuft. „ Auch nicht besser“? Huch, klarer Fall von: verloren in der Textexegese. Der Rest ist Midtempo-Alltagsbeobachtung im ÖPNV. Ü-40-Frau bei der „Shades of Grey“-Lektüre? „Nächster Halt Klischeehölle Mitte“, heißt es richtig, aber so ist das Leben. Nicht nur für Songwriter ist, wenn es hart auf hart kommt, alles ein einziges Klischee. Es geht darum, was man daraus macht – textmäßig. Und da ist „Trostbrücke Süd“ ein schöner Song übers Allgemeine.
Mannschaftsaufstellung
„Liebling, ich bin gegen Deutschland“ – und zwar nicht beim Fußball, sondern generell. Fußball als Bildspender, auch bei Kettcar ein beliebtes Motiv. In „Mannschaftsaufstellung“ werden Populismus, Pegida, Rechtsausleger mit der taktischen Grundordnung auf dem grünen Geläuf kurzgeschlossen: „Die Doppelsechs, die alles Fremde ins Abseits stellt“ also. Na ja. Ist fürs Abseits nicht eher die Viererkette da? Und ist die Nationalelf nicht multikulti? Und ist die Metphorik dann doch insgesamt nicht viel zu bemüht? Manchmal wird es allerdings tatsächlich unschön: Dass Nationalelf und Nazi-Idioten leider im selben Satz vorkommen können, haben zuletzt erst wieder sogenannte Fans beim Auswärtsspiel bewiesen.
Auf den billigen Plätzen
Guter Pop hat mehrere Böden. „Auf den billigen Plätzen“ könnte schlicht von einem Konzert handeln. „Auf Zehenspitzen stehen, Hinterköpfe sehen.“ Doch der Song erzählt mehr. Nämlich von den Abgehängten. Aber wer sind die? Jene aus dem eigenen Land, die es nicht geschafft haben, mit der Konjunktur zu gehen? Vielleicht. Vor allem sind aber wohl jene gemeint, die gar nichts haben, kein Netz und keinen doppelten Boden, die sich das Leben der anderen ausmalen müssen: „In Glanz gehüllt in warme Decken/Alkohol und Antibiotika und Kopfschmerztabletten.“ Am Ende dann kurz die Klatsche wider die Elite: „Das Beste ist immer der Feind des Guten.“ Aber ist gut nicht auch mal gut genug? Ein Lied, das demütig macht.
Mit der Stimme eines Irren
Beim vorletzten Stück muss dringend zunächst etwas über die Musik gesagt werden. „Mit der Stimme eines Irren“ ist, was den Gitarrensound angeht, die Essenz dieses herausragenden Rockalbums, in dem Powerchords und sanft gezupfte Akkorde eine extreme Dynamik erzeugen. So geil, alles – zum Irrewerden! Sollte Marcus Wiebusch im Nachdenken über Deutschland verstandesmäßig tatsächlich kollabiert sein, dann ist dieses wilde, trostlose, begeisterte, spalterische, vereinende Kampfraunen der Ausdruck davon. „Es macht keinen Sinn, einen Sinn zu ergeben“, singt Wiebusch, und wer jetzt nicht seine Anlage aufgedreht hat, der wird nie wissen, wie schön und richtig es sein kann, die Nachbarn zu ärgern.
Das Gegenteil der Angst
„Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“: 1995 sang Tocotronic die Hymne auf das Dazu-gehören-Wollen. Kettcar erzählt uns nun zum melancholischen Akustiksound, wo der postmoderne Mensch heute überall dazugehört. Generationen, Geldströme, das System. Teilhabe, die den Einzelnen zerteilt, überfordert. Der Song ist ein Aufbegehren gegen das Zerreißen des Ichs. Und, ja: Ein Wort wie „ Defragmentierung“ lässt sich rhythmisch intonieren. Oder ist das Stück, das sich aufmunternd steigert, gar ein verschlüsseltes Liebeslied? „Wie die Splitter eines Spiegels/hältst du mich zusammen“, singt Wiebusch. Vorher zitiert er noch Kante: „Mehr als die Summe all der einzelnen Teile.“ Ja, davon handeln wir.
Den Revolver entsichern
Ein Erbauungssong. Also nichts für Zyniker. Überhaupt: Zyniker sollten Kettcar meiden, die kämpferisch im besten Sinne sind. Klar, auch wir lieben Ironie und Abgeklärtheit, aber es gibt welche, die müssen den Job machen, für die ist dieser Song: „An die großherzigen Träumer, die Hoffenden der Zeit/ Die Blaulichter im Nebel, das tröstende Geleit/An die ganzen NGO-Praktikanten/ Stillen Demonstranten/An die jetzt und hier nicht Ausgebrannten“. Ja, was ist eigentlich so lustig an Liebe, Frieden und Verständnis? Fight, Hippies, fight!
Die Straßen unseres Viertels
Wer die Milieustudie „Am Tisch“ vom dritten Kettcar-Album „Sylt“ mochte, der wird sich über diese Fortsetzung freuen. Wiebusch besingt den Konflikt mittelalter Großstädter zwischen Druck und Komfortzone. Freiheit wollen, und dabei auf Bio und Delikatessen nicht verzichten. Abstiegsangst haben, den Schein waren. Über den Kindern „helikopterkreisen“ und „Burn-out vom Yoga“. Luxusprobleme? Gewiss. Aber auch Realität. Und ein sanfter Chorus scheint uns in Sicherheit zu wiegen. Ein Lied wie ein sehr anschauliches Soziologie-Seminar.
Sommer ’89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
Der Ossi-Wessi-1989-2015-Empathie- Pegida-Merkel-AfD-Song. Der zwischen Sprechgesang und kraftvollem Refrain historienschwer pumpende Beitrag Kettcars zum Thema Flüchtlinge. Intelligent, überraschend – und doch auch naheliegend, vor allem aber: ein typisches Kettcar-Lied. Spötter werden sagen, dass der Begriff „ Moralistenpop“ für derlei gesellschaftskritische Äußerungen genau richtig ist. Aber wenn sich jetzt nur einer, der vielleicht schon mal montags in Sachsen spazieren war, ertappt fühlt, dann ist schon etwas gewonnen. „Nur ein Bolzenschneider nötig für Löcher im Zaun“: Ein Bolzenschneider ist wirklich nicht viel, um Grenzen zu schreddern.
Benzin und Kartoffelchips
Ein Song wie ein Roadmovie. Mit der rauen Energie, die an Sebastian Schippers Film „Absolute Giganten“ erinnert. Etwas geht zu Ende. Die Freundschaft. Die Jugend. Die Unschuld. Vier Jungs haben Mist gebaut. Die Mutter hatte noch gemahnt. Jetzt muss einer in den Knast. Und wenn sie im Laufe des Songs dann durchbrennen, die Halbgaren, Halbstarken, raus ans Meer, dann explodiert der Refrain kurz und roh. Der Vers „Spüren, wie kalt es wirklich ist/ Benzin und Kartoffelchips“ ist in seiner verzweifelten Entschlossenheit ein würdiger Nachfolger für Tomtes „Ich bin bereit/gib’ mir Korn und Sprite.“