Hamburg. „Vielleicht wärst du auch ein Opfer des NSU“: Eine Hamburger Band ist wütend und laut. Im Video geht es auch um Süleyman Taşköprü.
„In Gedenken an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat“, so heißt es im Abspann. Es sind die Opfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), jener Terrorvereinigung, die zwischen 2000 und 2007 mordend durchs Land zog. Im Videoclip sind die Orte zu sehen, an denen die Einwanderer und Einwandererkinder getötet wurden. Süleyman Taşköprü starb in Hamburg, in der Schützenstraße in Bahrenfeld. Ein junger Mann, vermutlich deutsch ohne bio, schaut in die Kamera. Verdrossen, fragend, anklagend, abwartend.
Der Song heißt „München“ und ist die neue Single des am 5. April erscheinenden sechsten Kettcar-Albums „Gute Laune ungerecht verteilt“. Nichts weniger als der Song der Stunde; am Freitag war die Band bei der großen Demo am Jungfernstieg auf der Bühne. „München“ ist die überfällige, maximal relevante musikalische Intervention in einem Land, das derzeit vergessen hat, das es auf Leichenbergen gebaut ist. So scheint es zumindest, wenn eine Partei, die auf xenophoben konspirativen Geheimtreffen teilnimmt, nicht unrealistische Hoffnungen haben darf, bald tatsächlich zu regieren. AfD-Vertreter waren im November erwiesenermaßen beim geheimen Rechtsextremismus-Gipfel mit Identitären, Burschenschaftlern, aber auch Repräsentanten aus Politik, Bürger- und Unternehmertum. Ihr Thema: „Remigration“, also nichts weniger als die Vertreibung von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund.
Kettcar-Song und „Hamburg steht auf“: Der Soundtrack für die Demo
Grauenhaft, empörend, besorgniserregend. Die Gleichzeitigkeit von Demo und Erscheinen der Single war Zufall, oder: eine Punktlandung. „Hamburg steht auf“ hat nun für die kommenden Wochen ein eigenes Lied. Der Kettcar-Song, geschrieben wurde er von Bassist Reimer Bustorff, ist der Soundtrack zum Marsch für eine gute, weltoffene, bunte Gesellschaft. Was den Sound angeht, ist „München“ – bei dem Chris Hell, der Sänger der Post-Hardcore-Band Fjørt, ein paar Verse singt – robust, treibend, laut. Ein Wut-Song, der das Engagement aller Vernünftigen und Wohlmeinenden für die Gesellschaft tatsächlich pushen kann. Wer so etwas denn für seine innere Motivation noch braucht.
- „Hamburg steht auf“: Warum Lindenberg Protest unterstützt
- AfD-Verbot: Hamburgische Bürgerschaft beschäftigt sich mit rechter Vernetzung
- Massenandrang bei Kölner Demo gegen die AfD
München ist die Chiffre, der Platzhalter für die tatsächlichen Geburtsorte aller Mehmets, Ivos und Aliyas, die Deutsche sind, aber manchmal auch ohne Böswilligkeit an den Rand geschoben werden aufgrund der Migrationsgeschichte ihrer Familie. Marcus Wiebusch singt es so: „Wo ich geboren bin?/Wo ich geboren bin?/Sie fragen, wo ich geboren bin/Ich sag’, ich bin geboren in München-Harlaching/München, alte Lady/Mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby.“ Samt knalliger Metapher, es muss schon deutlich werden mit dem Schmerz.
Denn was ist der Schmerz anständiger Demo-Deutscher, die jetzt mal wieder und gottlob aufstehen gegen rechts, schon gegen den Schmerz migrantischer Lebenswelten, die nur im allerbesten Fall bi-kulturell geprägt, also doppelt interessant sind? In schlechteren Fällen sind sie mit Vorurteilen und Ausgrenzungspraktiken konfrontiert. Der Kettcar-Song brüllt sie heraus: „Dann die erste Bewerbung auf deine erste Wohnung/Unter meinem Namen – weil deiner nicht ging/Und der Vermieter dann in ganz einfacher Sprache mit dir sprach/Als wärst du ein Kind.“
Neuer Kettcar-Song „München“: Es eskaliert gerade alles
Die Anfang des Jahrtausends in Hamburg gegründete Band Kettcar ist für ihre gesellschaftskritischen und nachdenklichen Texte bekannt. Ihr bislang letztes Album „Ich vs. Wir“ erschien 2017, auf ihm ging es um rechtsgewirkte Tendenzen in Deutschland, um Montagsmarsch und Pegida, „ein Wir ist Volk, Nation, Gesinnung, ist Gang, ist Mob und hängt Verräter“. „München“ nun wiederholt die Besorgnis und, wohl auch das, die Ratlosigkeit angesichts der Zustände in diesem Land, die gegenwärtig zu eskalieren scheinen.
„Vielleicht wärst du auch ein Opfer des NSU/ Vielleicht wärst du auch ein Opfer der Polizei/ Vielleicht wärst du auch ein Opfer der Justiz/ Und man würde fragen: ‚Wo wurde der denn geboren?‘ ‚Wo kam der denn her?‘ ‚Hätte man ihn dahin denn nicht zurückschicken können?‘“, endet der neue Kettcar-Song. Er ist eine Mahnung.