Hamburg. Marcus Wiebusch schrieb erst zornige Punk-Lieder. Dann gründete er Kettcar. Und singt seitdem Lieder für uns alle. Eine Begegnung.
Es klappt dann doch noch mit dem Tanker, denn Containerschiffe sind langsam. Marcus Wiebusch lehnt also für den Fotografen am Geländer zur Elbe, und außer den Kränen im Hintergrund ist auch das Boot mit im Bild. Das ist sie, die Hafenstadt, in ihrer Pracht.
Man muss zum Altonaer Balkon gehen, um Hamburg zu sehen. Und in diesem Falle auch einen 54-jährigen Mann, der im Rock ’n’ Roll grau geworden ist. Und verwundert auf das Tempo von einst zurückblickt. Marcus Wiebusch sagt: „Allein in der zweiten Hälfte der Neunziger habe ich mit meinen zwei damaligen Bands vier Alben gemacht.“
Kettcar: Die Produktivität ist nicht mehr so da
Und heute? Ist das letzte Kettcar-Album auch schon wieder fünf Jahre her. Sicher, es gab anschließend noch eine EP. Aber die Dringlichkeit, die Energie, die Produktivität von früher ist so nicht mehr da. So isses halt, Wiebusch macht keinen unglücklichen Eindruck deswegen. Im Gegenteil ist er dieser Tage ziemlich gut gelaunt. Es gibt etwas zu feiern. Grand Hotel van Cleef wird 20 Jahre alt.
Das Label also, das Wiebusch 2002 gemeinsam mit Kettcar-Kompagnon Reimer Bustorff und Thees Uhlmann gründete, dem Chef der damals noch existierenden Band Tomte. Dass es Grand Hotel van Cleef heute immer noch gibt, ist einerseits das Ergebnis richtiger Entscheidungen. Das Label ist heute mehr als nur das, nämlich auch Booking-Agentur, Shop, Musikverlag. Andererseits war schon 2002, in einem anderen Zeitalter der Popindustrie, die Gründung eines Labels keine todsichere Sache. Um es mal so auszudrücken.
Kettcar arbeitet an neuem Album
Wiebusch („Wir haben Corona überstanden“) hat noch mal ganz neue Probleme kennengelernt. Und gemeistert. „Anders als mit Kettcar war es beim Label aber nie ganz selbstverständlich, dass es weitergeht“, sagt Wiebusch, der über beides, Plattenfirma und Band, in einer Mischung aus Abgeklärtheit und Leidenschaft spricht. Er ist lange im Geschäft. Vorhin haben wir ihn gefragt, was er an diesem heißen Augustnachmittag täte, wäre er nicht mit dem Abendblatt verabredet. „Songs für Kettcar schreiben“, hat Wiebusch da lapidar geantwortet.
Eine gute Nachricht. Es wird also bald ein neues Album geben, wobei Wiebusch („Das hoffen wir aber“) sich nicht hundertprozentig auf 2023 festlegen will. Ist das nicht großartig?
Kettcar erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit
Man muss nämlich wissen, dass Kettcar uns immer noch alle retten muss. Vor den Nulltextern, den Weichspülern, den Dumpfrappern, den nächsten deutschen Superstars, den Ignoranten. Wiebusch glaubt fest daran, dass seine Band im dritten Jahrzehnts ihres Bestehens immer noch relevant für die Zielgruppe ist: „Die Leute, die einst als Studenten Kettcar hörten, schätzen uns heute immer noch, auch dafür, dass wir in unseren Texten über das Leben und die Gesellschaft nachdenken.“
Was eher untertrieben ist. Wiebusch bestätigt selbst, dass die Band bundesweit zuletzt vor immer größerem Publikum aufgetreten ist. Da erledigt sich dann die Frage, ob einer Band, der nicht natürlicherweise neue Fans zuwachsen – außer, die Studenten von einst bringen ihre Kinder mit –, irgendwann das Publikum ausgeht. Weil: Interessen verschieben sich halt, die Rockbegeisterung von einst weicht der Netflixbequemlichkeit von heute.
Kettcar ist eine Haltung
Im Falle von Wiebuschs Band sind die Hörer und Konzertgängerinnen treu. Man hat schon lange Kinder, geht nicht mehr auf Partys, man wohnt weiter draußen, man hat keinen CD-Player mehr. Aber man ist nicht unbedingt ein anderer geworden. Kettcar, das ist keine musikalische Vorliebe, sondern eine Haltung.
Wobei Haltung auch ein Signalwort ist. Bei Haltung ist immer die Moral im Spiel, oder Betroffenheit. Vielleicht ist Kettcar auch oft der Soundtrack von Leuten, die zu entschieden der Meinung sind, immer auf der richtigen Seite stehen. Und Pathos (Wiebusch: „Ich schreibe keine coolen und smarten Texte“) ist Kettcar auch nicht fremd. Es gab also auch immer Feinde.
Wiebusch ist Rock ’n’ Roller geblieben
Was Wiebusch, unter dessen besten Songs die über die Flüchtlingskrise („Sommer ’89“) und über Homophobie („Der Tag wird kommen“) sind, nie vom Weg abgebracht hat. Als Punkmusiker mit seinen Bands Rantanplan und … But Alive war irgendwann Schicht („Die Leute sind die Richtung, die wir einschlugen, nicht mitgegangen“), aber Kettcar könnte, trotz zwischenzeitlichen Sabbaticals, eine Sache für ewig werden.
Wenn Wiebusch über das Älterwerden im Business spricht und über alles, was sich geändert hat, hört man wenig Melancholie heraus. Obwohl: Längere Arbeitszyklen hin oder her, der Hunger ist immer noch da und die Gegenwart zählt. Wiebusch ist trotz der Tiefe der Jahre in seiner Vita (um dem Altern eine weniger schlichte Umschreibung zu gönnen) Rock ’n’ Roller geblieben, er sitzt auf Wunsch des Reporters nonchalant unter einem Baum und sagt überzeugt, was Sache ist: „Moralismus hat einen schlechten Ruf und kann nerven, aber Moral gehört in einen politischen Song, weil ja erst einmal klar sein muss, was für mich richtig und was falsch ist.“
Wiebusch will weniger klar in neuen Songs sein
So klar in der Aussage wie auf dem letzten Album „Ich vs. Wir“, auf dem es politisch wurde, weil Pegida und Xenophobie auch künstlerische Gegenpositionen herausforderten, will Wiebusch in neuen Stücken nicht sein. Es ist das Storytelling (man wirft, eh klar, den Namen Springsteen in den Raum und erntet ein Nicken), das Wiebusch interessiert: Wie in älteren Songs wie zum Beispiel „Der Tag wird kommen“ sollen sich Themen mit Protagonisten und Geschichten entfalten. Es werden, wenn man das bisherige Werk des Texters Wiebusch als Maßstab nimmt, Geschichten sein, die über den einzelnen hinausweisen.
Was Letzteres angeht, die Geschichten, die ein Leben erzählt, kann man auch bei ihm selber anfragen. Eine gute Geschichte weist dann über sich hinaus, wenn man sich zu ihr in Beziehung setzen kann, so unterschiedlich Lebensumstände sein mögen. Marcus Wiebusch wäre, es war die beruflich wichtigste Wegscheide seines Lebens, beinah versucht gewesen, mit der Musik aufzuhören.
Wiebusch beendete sein Pädagogikstudium
Er hatte, nach längeren, Musik-bedingten Pausen in den 90ern, sein Pädagogikstudium tatsächlich zu Ende gebracht und arbeitete anschließend in einem Jugendprojekt in Bergedorf. Er machte dort mit jungen Leuten Musik, ohne viel Theorie. Bereitete ihm Freude, den Jugendlichen, seinem Arbeitgeber. Der bot ihm einen Job an, als Angestellter im Öffentlichen Dienst, das ganze Programm des soliden Lebenswandels.
Und Marcus Wiebusch, der damals, so erzählt er es, wenig Geld hatte, sich Sorgen machte wegen der Miete, ganz klassisch, Marcus Wiebusch also sagte ab. Entschied sich für eine einstweilige Verstetigung der Unsicherheit, „für die Künstlerseele“, wie er sagt, und gegen das bürgerliche Leben.
"Kettcar war unser großer Traum“
An einen Erfolg mit Kettcar sei damals noch nicht zu denken gewesen, erinnert sich Wiebusch, „wir befanden uns ganz am Anfang.“ Seine Punkjahre waren vorbei, er wollte mehr Pop machen, mit seinem alten Weggefährten, dem Schlagzeuger Frank Tirado-Rosales, und dem Bassisten Reimer Bustorff probierte er sich aus – ins Ungewisse hinein. „Gerade Reimer und ich, wir haben uns gegenseitig angetrieben, Kettcar war unser großer Traum“, sagt Wiebusch.
Es hat sich dann alles gefügt. Mit dem Album „Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen“ sind sie 2005 schnell auf dem Peak angekommen, sogar die „Tagesthemen“ berichteten damals. Auch schon wieder lange her, wie überhaupt das Gespräch immer wieder weite Bögen spannt. Das ist halt eine Alterssache, auf beiden Seiten. Was soll man machen.
Wiebusch machte eine Soloplatte
2014 hat Wiebusch eine Soloplatte gemacht, auf „Konfetti“ ist der Homophobie-im-Fußball-Song „Der Tag wird kommen“; ein wichtiges Thema. Und maximal ernsthaft umgesetzt, was manchen nicht passte. Wiebusch sagt zwar heute „Was soll’s“, aber man merkt immer noch, dass ihn manch schroffe Kritik kränkte. Dabei war die Aufnahme des Stücks, das heute auch auf Kettcar-Konzerten gespielt wird, doch insgesamt angemessen: Es wurde gefeiert für Message, Videoclip, Komposition. Marcus Wiebuschs Bruder ist schwul, da kann man sich vorstellen, welche Bedeutung das Lied im innersten Kreis hatte.
Marcus Wiebusch, der Vater: Was das angeht, hat er, wie er findet, mal ein bisschen zu viel geredet in einem Interview. Trotzdem fragt man natürlich, und er antwortet auch nicht widerwillig. 18 und 14 sind seine Söhne jetzt, haben die Liebe zum Fußball von ihm geerbt, wobei nur der Ältere mit ans Millerntor geht. Wiebusch wundert es nicht, dass sie andere Musik hören als er, Rebellion muss ja auch sein. Würde er heute jung sein wollen? „Was das Thema Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken angeht, sicher nicht“, sagt Wiebusch, „wenn man kein Selbstvertrauen hat, aber auf Instagram immer das angeblich schöne und richtige Leben gezeigt bekommt, ist das brutal“.
Künstler ziehen sich auch mal zurück
Als die Sprache auf seine väterliche Präsenz im Alltag kommt, will Wiebusch keine falsche Romantik aufziehen lassen. Wer als Künstler seine Zeit frei einteilen kann, ist trotzdem nicht immer anwesend, schon gar nicht mental. „Wenn ich an Songs und Alben arbeite, befinde ich mich teilweise in einem U-Boot“, sagt er.
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Aber er hat das wichtige natürlich doch gemacht. Seinen Kindern das Schwimmen beigebracht und solche Sachen. Sie wissen, dass ihr Vater eine Art Rockstar ist – Wiebusch würde das Wort eh nur ironisch verwenden –, und wer fände das als Kind nicht toll. Was die Sache mit den jungen Leuten und ihren Geschmack und die Spotify-Generation angeht, ist die Sache übrigens nicht so eindeutig. Weil: Wenn man es genau nimmt und zum Beispiel seinem Produktionsassistenten im Plattenstudio glaubt, einem jungen Mann, er ist vielleicht nicht mal 30, dann hören neuerdings die Hipster in Berlin Kettcar. „Das konnte ich kaum glauben“, sagt Marcus Wiebusch.
Kettcar will die Welt mit Songs besser machen
Die Welt besser machen mit Songs, darum muss es doch gehen, schiebt Wiebusch irgendwann mal ein, als es um den polarisierenden Aspekt von Kettcar geht. Und das darf tatsächlich immer noch der Anspruch sein. Auch in der nächsten Generation.
Das Jubiläumskonzert „20 Jahre Grand Hotel van Cleef“ mit Kettcar und Thees Uhlmann findet am 25. August ab 18 Uhr auf dem Lattenplatz und anschließend ab 21 Uhr im Knust statt – es gibt noch Restkarten.