Hamburg. Intensiv, aber auch seeehr lang: Johan Simons zeigt stark besetzt „Das Leben ein Traum“ am Thalia Theater. Eine Pause gibt es nicht.
Die Schauspieler bauen ihre Bühne im Halbdunkel auf. Sie schleppen Tische heran wie für eine Leseprobe, die Bühne dreht sich langsam und stetig um eine kompakte, bleierne Kugel im Zentrum des Scheinwerfers. Eine Weltkugel vielleicht, ein erstarrtes Pendel, eine matte Discokugel? Sie bewegt sich nicht, alles bewegt sich um sie. Ein Dämonenkern, ein schwarzes Loch? Jegliche Energie, immer weiter verdichtet, konzentriert sich um diesen stummen Kern. Wie in einem physikalischen Experiment lässt Bühnenbildner Johannes Schütz auch einen großen Spiegel immerfort rotieren, der, sobald der Spiegel den hinteren Bereich der Bühne erreicht, auch das Publikum abbildet, während ein einsamer Trompetenton Miles Davis‘ „Sketches of Spain“ durch den Raum trägt.
Die Welt ein Schauspiel, die Menschheit ein Versuchsaufbau. Und: „Das Leben ein Traum“, wie der poetische Titel des Barockdramas von Pedro Calderón de la Barca lautet, das der niederländische Regisseur Johan Simons, Intendant am Schauspielhaus Bochum, diesmal für das Thalia Theater ausgesucht hat. Schon 1639 fand die deutsche Erstaufführung in Hamburg statt, 385 Jahre später ist der Mensch noch immer auf Sinnsuche. Simons fasst sie in einen intensiven, hochkonzentrierten, erschöpfenden Abend.
Während die Edeldame Rosaura (Marina Galic) dem von ihr verehrten Astolfo nachläuft, der sie aus Karrieregründen für Estrella verlassen hat, trifft sie auf den Prinzen Sigismund (Jens Harzer), der seinerseits in einem Turm abseits jeglicher Zivilisation vegetiert. Eingesperrt hat ihn der eigene, abergläubische Vater nach einer ungünstigen Prophezeiung; Sigismund kennt weder ihn noch seine Herkunft oder seine Bestimmung. Sein einziger Weltkontakt ist der „Erzieher“ Clotaldo, der wiederum – es ist nun einmal ein Märchen – ausgerechnet Rosauras Vater ist.
Thalia-Premiere braucht Geduld: Sinnsuche bis zur Erschöpfung
Einen Tag lang gewährt der Vater dem Sigismund nun den Thron, um herauszufinden, ob „der freie Menschenwille über allen Sternen steht“, stärker, womöglich sogar: besser ist als das vorhergesagte Schicksal. Spoiler: ist er nicht, jedenfalls nicht im ersten Versuch. Weil es also gründlich schief geht und der Sohn sich beim plötzlichen Ins-Regieren-geworfen-werden ebenfalls grausam und böse anstellt, wird dem flugs erneut eingeschläferten und eingekerkerten Prinzen weißgemacht, der Ausflug sei nur ein Traum gewesen.
Verwandt verhält es sich mit der Verabredung im Theaterraum. Parkett und Ränge glauben ja an die vorgespiegelte Realität oder tun zumindest so, versenken sich darin, bis der gemeinsam durchlebte Traum irgendwann sein Ende findet. Den Zeitpunkt legt die Regie fest. Johan Simons (mit Friederike Harmstorf) offenbart bis dahin bewusst und von Beginn an, dass sich die erzählte Geschichte auf dem Theater abspielt, dass hier nicht nur die Figuren agieren, sondern ein Ensemble gemeinsam auf der Suche nach einer Wahrheit ist. Emotional, intellektuell, aber auch ganz spielerisch, wenn zum Beispiel Marina Galic in der Rolle der als Jüngling verkleideten Rosaura anfangs immer wieder genüsslich am künstlichen Klebe-Schnurrbart scheitert. Zum Glück hat sie reichlich Vorrat eingesteckt.
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Jede Spielerin und jeder Spieler sind permanent anwesend. Haben sie gerade keinen Text, sitzen sie auf Stühlen an der Rückwand oder ziehen sich dort um, während das Zentrum der Bühne zum Laufsteg wird, zur Spielfläche, zum Gefängnis, zur Arena. Dort finden die Machtkämpfe statt, die Geschlechtergefechte und die immer wieder sehr körperlich ausgetragene Suche nach dem Ich und der grundsätzlichen Erkenntnis und dem eigenen Platz in der Welt.
Drama am Thalia: hochpoetisch, toll gesprochen, genau gearbeitet. Aber es erfordert Geduld.
Allen Spielern, allen Charakteren wird dabei für ihre jeweilige Motiv- und Seelenlage ausgiebig Raum ermöglicht. Sie erforschen die Situation, sie schmecken die Texte, jeden Satz, jedes Wort, jedes Komma. Das ist hochpoetisch, toll gesprochen, genau gearbeitet. Aber es erfordert Geduld. Von den Zuschauerinnen und Zuschauern, durchaus auch von den Figuren: Wie Anna Blomeier als mondäne Prinzessin Estrella beim ersten wortreichen Werben ihres Cousins Astolfo (Jirka Zett) mit den Augen rollt und den Stoßseufzer, nun, vielleicht nicht ausformuliert, aber angesichts der Ausführlichkeit doch mindestens genervt mitdenkt, das ist schon auch eine hübsche Spiegelung des Publikums, dem der Abend einige Langmut abverlangt.
Immerhin: Kaum ein Huster oder Räusperer stört die Konzentration. Das ist nicht nur hinsichtlich der Inszenierungsstrecke (zwei Stunden und gut 45 Minuten) eine Leistung, wobei im Parkett nicht ganz auszuschließen ist, dass so manch einer sich vom Geschehen zwischenzeitlich in eigene Traumwelten abmeldet.
Den Durchhaltenden schaffen die verspielten Momente Erleichterung und Zerstreuung, in denen der Eingesperrte vom Kollektiv zum König umgestylt wird, in denen er zum ersten Mal die Köstlichkeit von Eiscreme erfährt. Eine Bettszene (Clotaldo: „Oje, die Lage spitzt sich zu“) wird zur ausgelassenen Farbschlacht zwischen Marina Galic und Jens Harzer, keine Scham, keine störenden gesellschaftlichen Konventionen. Die Unbefangenheit ist nie von Dauer – das Eis wird ausgesprochen realistisch ausgekotzt, es bleiben Weltekel und ein besudeltes Häuflein Mensch, „Sklave seines Jähzorns“.
Premiere am Thalia: Die Besetzung ist auf jeder Position fantastisch
Etwas weniger Breite hätte dem Gesamtbild gut getan, wenngleich die Besetzung auf jeder Position fantastisch ist: Christiane von Poelnitz ist ein souveräner Herrscher, Felix Knopp (mit Dandyschopf) bleibt smart und energetisch noch in der Zerrissenheit. Insbesondere Jens Harzer („In jedem von uns schläft eine Bestie“), der als Sigismund die Welt als gänzlich neuen Erfahrungsraum testet, reißt alle Grenzen, pendelt zwischen zergrübeltem Melancholiker und entfesseltem Kleinkind mit Tobsuchtsanfall. Mit weißgetünchtem Gesicht und im schwarz-weißem Aufzug bekommt seine Verzweiflung etwas grotesk Clowneskes.
Ohne eine einzige Pause rauscht die Erkenntnisschlacht dahin und bricht nach fast drei Stunden schließlich abrupt ab. Ton aus, Licht aus. Wirklichkeitsmaschine an. Weitermachen.
„Das Leben ein Traum“, Thalia Theater (Alstertor), die nächsten Vorstellungen sind am 23. und 26.3. sowie am 6.4., jew. 19 Uhr, außerdem am 26.4. (19.30 Uhr) und 28.4. (17 Uhr), Karten unter www.thalia-theater.de