Hamburg. Im Finale des kleinen Festivals zum 100. Geburtstag von Luigi Nono spielte das NDR Elbphilharmonie Orchester eines seiner Meisterwerke.
„Totenstille“ ist ein so naheliegendes, so grausam passendes Wort für diese Ruhe, die diese längst historischen letzten Worte aus finsteren Zeiten im Großen Saal der Elbphilharmonie auslösten. Eine 18-jährige Italienerin schrieb im Abschiedsbrief an ihre Mutter: „Meine Leiche befindet sich diesseits der Schule, ihr könnt sofort mich holen kommen. Mama, bete für mich.“ Eine erst 14-jährige Griechin hinterließ ungebrochen: „Ich sterbe für die Freiheit und das Vaterland.“ Sie und so viele im letzten Jahrhundert wurden als politisch Verfolgte von Besetzern, Unterdrückern, Faschisten ermordet. Hingerichtet, gehängt, erschossen, enthauptet.
Der venezianische Komponist Luigi Nono erinnerte, wütend trauernd, in seinem erschütternden Mahnmal „Il canto sospeso“ an einige von ihnen, indem er ihre Worte mit finsterer, verdorrter, absterbender, fassungsloser Musik umhüllte, auch, um ihnen Würde wiederzugeben. Als Finale eines allzu kleinen Festivals zum 100. Geburtstag Nonos führte das NDR Elbphilharmonie Orchester diese epochenüberspannende Klageschrift auf. Und wann immer Matthias Brandt als Sprecher diesen Abschiedssätzen ein kurzes, individuelles Leben gab, war es im Saal: totenstill. Alle wussten: Jeder dieser Briefe könnte auch heute noch, gerade jetzt geschrieben werden, irgendwo in der Ukraine oder in vielen anderen Kriegsgebieten.
Elbphilharmonie: Matthias Brandt und Nonos „Il canto sospeso“
Jonathan Stockhammer, bekannt für stilistische Offenheit und Neugier auf Herausforderungen, leitete das NDR-Orchester mitsamt dem Vokalensemble und den Gesangssolisten sicher, einfühlsam und detailpräzise durch dieses fast 70 Jahre alte, hochaktuelle Doku-Drama aus Tönen und Klangausformungen, weit über die stützenden Ränder der Tonalität hinaus. Beeindruckend war nicht zuletzt auch die Chorleistung, sich in der dicht verwebten Vielstimmigkeit nicht zu verlieren. Nonos Moralbegriff und seine Botschaften sind nicht verjährt, ihre Dringlichkeit prägte diesen ganz besonderen Konzertabend.
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Weil Nonos Vita und seine Klangphilosophie so sehr mit seiner Heimatstadt Venedig verbunden sind, war es ebenso konsequent wie klug, die anderen Werke des Konzerts darauf abzustimmen, um einen weiten Bogen in die Historie zu schlagen. Vivaldi hat man sich dabei verkniffen, es ging deutlich weiter zurück – zur Renaissance-Größe Ottavanio Petrucci, dem „Gutenberg der Musikgeschichte“, der eine revolutionäre Notendrucktechnik erfunden hatte. Seine „Harmonice Musices Odhecaton“, 1501 erschienen, sind so etwas wie das Urmeter früher mehrstimmiger Musik aus Venedig.
Nonos Zeitgenosse (und Mit-Venezianer) Bruno Maderna hat einige Sätze, sanft modernisiert, für ein kleines heutiges Orchester und dessen Klangpalette adoptiert. Musik, die enorm weit vom NDR-Tutti-Alltag entfernt ist, aber mit reizender Anmut behutsam entstaubt wurde. Luigi Dallapiccolas „Due pezzi per orchestra“ von 1947 bleibt dieser Ära gedanklich verbunden, spielt aber mit den dekonstruierenden Möglichkeiten der damaligen Avantgarde – zunächst eine sanft schwebende Sarabande, wie auf Zehenspitzen zu spielen, dann, in „Fanfare e Fuga“ forsch und stolz auftrumpfend.