Hamburg. „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Dieses Mal: François Gérard, „Ossian am Ufer der Lora beschwört die Geister beim Klang der Harfe“.

Nach all den Landschaftsbildern von Caspar David Friedrich und Werken zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler, die sich in irgendeiner Weise auf den Romantik-Maler beziehen, kommt in dieser Kunstspiel-Folge etwas komplett anderes, wobei die Epoche (die beginnende Romantik) eine ähnliche ist: François Gérards „Ossian am Ufer der Lora beschwört die Geister beim Klang der Harfe“ (um 1811). Ein Traumbild in dunklen Farben, auf den ersten Blick. Auf den zweiten schälen sich einzelne Figuren aus der diffus skizzierten Szene. Und die gilt es zunächst einmal zu erläutern.

Wer war Ossian, der den Bildtitel anführt? Angeblich der Name eines keltischen Dichters aus dem Altertum. Der schottische Literat James Macpherson (1736–1796) behauptete, er habe Gedichte dieses Dichters gefunden, und veröffentlichte sie unter „Ancient Fragments of Poetry“. In Wirklichkeit hatte er sie sich selbst ausgedacht. Das trübte aber die Popularität der Ossian-Verse keineswegs. Im Gegenteil: Seine Geschichten über Liebeskummer und Kämpfe, Trauer und Schmerz wurden in mehrere Sprachen übersetzt, man war einfach begeistert davon, dass so alte Gedichte überhaupt wiederentdeckt worden waren. Ossian ging als „Homer des Nordens“ in die Geschichte ein.

Gemalt für Napoleon Bonaparte, heute in der Hamburger Kunsthalle

Zu den glühenden Anhängern des Ossian im nachrevolutionären Frankreich gehörte Napoleon Bonaparte, damals noch Erster Konsul. 1800 erhielten die Maler François Gérard (1770–1837) und Anne Louis Girodet-Trioson (1767–1824) den Auftrag zu Gemälden mit ossianischen Themen für den Salon doré des Schlosses Malmaison, der Sommerresidenz Napoleons; die Gemälde wurden 1801 beziehungsweise 1802 vollendet.

François Gérard, „Ossian am Ufer der Lora beschwört die Geister beim Klang der Harfe“, um 1811, Öl auf Leinwand, 184,5 mal 194,5 Zentimeter.
François Gérard, „Ossian am Ufer der Lora beschwört die Geister beim Klang der Harfe“, um 1811, Öl auf Leinwand, 184,5 mal 194,5 Zentimeter. © bpk | Hamburger Kunsthalle | Elke Walford | Hamburger Kunsthalle

Experten gehen davon aus, dass Gérards hier gezeigtes Bild eine Art Synthese der ossianischen Dichtung darstellt: Der alte und blinde Barde beschwört mit Gesang und Harfespiel die um ihn schwebenden Helden seiner Lieder. Rechts auf einem Thron sitzt Fingal, König von Morven. Seinen linken Arm hat er locker um seine erste Frau Roscrana, die Mutter Ossians, gelegt. Im Hintergrund sind unscharf einige Krieger zu erkennen, angeführt von dem alten Barden Ullin. Der Fluss Lora trennt die Schatten der Toten von den Lebenden. Der Maler hat das zerfallene Schloss von Selma, dem Wohnsitz Fingals, in unheimliches Licht getaucht. Hinter Ossian umarmt sich das Liebespaar Oskar und Malvina, einige junge Mädchen musizieren und streuen Blumen für die beiden.

Mehr zum Thema

Die Erstfassung des Gemäldes ging 1810 auf dem Transport nach Schweden als Geschenk an den Marschall und Thronanwärter Jean-Baptiste Bernadotte (1763–1844, ab 1818 König Karl XIV. Johann von Schweden) mit dem Schiff unter. Lediglich eine Radierung des Kupferstechers John Godefroy (1771–1839) ist überliefert. Das Bild der Hamburger Kunsthalle ist wohl die um 1810/11 als Ersatz für das verlorene Werk gemalte zweite Fassung, die sich bis 1873 im Besitz des schwedischen Königshauses befand. Es gelangte 1910 durch eine Schenkung Ludwig F. Hansings in die Kunsthalle und wurde zunächst, übrigens auch von Alfred Lichtwark, dem dänischen Maler Asmus Jakob Carstens (1754–1798) zugeschrieben. Erst später erkannte man es als einen „Gérard“ an.

podcast-image