Hamburg. In „Die Entführung“ kommt Mitch McDeere zurück. Gaddafi auch. Aber hat der Autor da womöglich ein paar Manuskripte verrührt?

Wie der einsame „Wanderer über dem Nebelmeer“ steht der gut gekleidete Mann auf dem Buchcover. Mit dem Rücken zum Betrachter blickt er von oben auf die Hochhäuser New Yorks, das nächtlich erleuchtete Manhattan ist sein Nebelmeer, auf den ersten Blick romantisch, in Wahrheit ein Moloch. Und wie der Wanderer sich nicht der Natur unterordnet, beugt sich diese fiktive Anwaltsfigur nicht der arroganten Welt der durch und durch profitgetriebenen Großkanzleien, denen am Ende des Tages der eigene Bonus wichtiger ist als ein Menschenleben.

John Grisham: „Die Entführung“, Heyne, 384 Seiten, 24 Euro.
John Grisham: „Die Entführung“, Heyne, 384 Seiten, 24 Euro. © Penguin Random House Verlagsgruppe | Penguin Random House Verlagsgruppe

Dabei ist Mitch McDeere natürlich selbst Teil dieser Welt. Seit Jahren. Wem der Name vage bekannt vorkommt: Mitch war der smarte Topjurist, der sich als Hauptfigur in John Grishams Weltbestseller „Die Firma“ mit der Mafia anlegte und am Ende sowohl das FBI als auch den Mob austrickste. Der, in den sich vor 33 Jahren die Bestsellerlisten verknallten, erst in den USA, dann weltweit. 47 Wochen hielt sich Grishams „The Firm“ auf der Bestsellerliste der „New York Times“, in Deutschland brachte es der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe auf fast 30 Hardcover-Auflagen, Dutzende Taschenbuchauflagen des Heyne Verlags folgten, 1993 dann eine legendäre Verfilmung von Sydney Pollack mit dem jungen Tom Cruise, der vermutlich schon damals alle Stunts selbst machte. Schaut man den Justizthriller (in dem außerdem Gene Hackmann, Holly Hunter und Ed Harris besetzt waren) heute noch einmal, wirkt er fast wie ein Bewerbungsvideo für „Mission impossible“.

John Grishams neues Buch „Die Entführung“ bringt Action, Drama, Zeitdruck

Jetzt ist Mitch McDeere also wieder da. „Die Entführung“ heißt John Grishams neuer Roman, auf dessen Cover dieser Anwalt über Manhattan blickt. Und es ist – mehr als drei Jahrzehnte später – die Fortsetzung von „Die Firma“. So jedenfalls steht es auf dem leuchtend gelben Sticker des Verlags. Und so liest sich zumindest auch der Anfang des Thrillers.

„Du magst Action, Drama, Zeitdruck“, wird Mitch da von einem Kollegen erinnert. Er hat sich inzwischen eine neue US-Großkanzlei gesucht (Scully & Pershing, die bereits in den Grisham-Werken „Der Anwalt“ und „Anklage“ eine Rolle spielte) und es dort bis zum Partner geschafft hat. Die korrupte Firma von damals ist aufgelöst, „einige sind tot, andere sitzen irgendwo im Gefängnis“. Mitchs Ehefrau Abby ist keine Lehrerin mehr, sondern erfolgreiche Kochbuchlektorin (ja, auch weibliche Karrieren haben sich in den vergangenen 30 Jahren verändert), Mitch will nie wieder nach Memphis, wo er einst nach dem Harvard-Abschluss bei einer verbrecherischen Kanzlei gelandet war. Die zwar verboten gut zahlte, ihn und seine junge Frau aber fast das Leben gekostet hätte.

John Grisham, früher selbst Anwalt, seit Jahrzehnten Bestsellerautor.
John Grisham, früher selbst Anwalt, seit Jahrzehnten Bestsellerautor. © ©Michael Lionstar | ©Michael Lionstar

Tempi passati. 15 Jahre, um genau zu sein, was beim Lesen anfangs irritiert – aber John Grisham hält sich schlicht nicht an die tatsächlich vergangene Zeitspanne seit der Veröffentlichung von „The Firm“, sondern steigt bereits zum Beginn des Jahrtausends erneut in die McDeere-Biografie ein. Er braucht, wie sich noch herausstellen wird, den weltpolitischen Hintergrund.

„Die Entführung“: Hat John Grisham da etwa ein paar Manuskripte verrührt?

Mitch und Abby haben inzwischen Zwillingssöhne, genießen ihr Upper-Class-Leben, bis Mitch trotz allem eine Schleife nach Memphis dreht, wo er den aussichtslosen Fall eines Todeskandidaten übernehmen soll. Grisham selbst ist ein erklärter Gegner der Todesstrafe und hat sich noch nach Erscheinen seines literarischen Durchbruchs „Die Firma“ um die Freilassung Unschuldiger bemüht. Seine Romanfigur lässt er jedoch zu spät kommen, der Verurteilte ist bereits tot. Stattdessen sucht Mitch einen alten Weggefährten auf, und die Vergangenheit schleicht sich erneut in sein Leben.

Oder? Was der Auftakt einer neuen Bedrohungslage sein könnte – für den Fortgang dieses Romans hat es keinerlei Bedeutung. Hat John Grisham etwa seine Notizen geplündert und zwei halbfertige Manuskripte zu einem ganzen Roman zusammengefügt? Der Verdacht liegt nahe, denn obwohl ein undurchsichtiger Todesfall, eine originelle Anwaltsfigur in den Südstaaten und mögliche Rachegelüste angedeutet werden, beginnt die eigentliche Handlung erst viel später. Und sie hat nahezu keine Berührungspunkte mit dem Einstieg: McDeere übernimmt das Mandat in einem Streit zwischen einem türkischen Bauunternehmen und dem libyschen Staat. Für den größenwahnsinnigen Herrscher Muammar al-Gaddafi hat die Firma eine sechsspurige Brücke mitten in der Wüste gebaut (ein solches Projekt gab es einst tatsächlich), nur bezahlt worden ist sie dafür nicht.

Der neue John Grisham Roman: Es wird viel gegessen und noch viel mehr getrunken

Mitch reist nach Tripolis, um das gigantomanische Bauwerk zu besichtigen, seine italienische Kollegin wird entführt, unbekannte Warlords köpfen ihre Begleiter und verlangen 100 Millionen Dollar. Und Mitch McDeere muss das Lösegeld auftreiben.

Kommt in „Die Entführung“ vor: Muammar al-Gaddafi, eine Figur wie aus einem Grisham-Thriller.
Kommt in „Die Entführung“ vor: Muammar al-Gaddafi, eine Figur wie aus einem Grisham-Thriller. © picture alliance / empics | Stefan Rousseau

Das ist zeitweise unterhaltsam, wenn das Romanpersonal quer durch die Weltgeschichte jettet, in die amerikanischen Südstaaten, nach Italien, Libyen, Maine, London, Marrakesch, auf die Cayman Islands. Mitch verhandelt mit Doppelagenten, undurchsichtigen Sicherheitsunternehmen und heuchlerischen Regierungen und legt nebenbei den (wenig überraschenden) unmoralischen Hyperkapitalismus der New Yorker Rechtsverdreher offen. Es wird viel gegessen und noch viel mehr getrunken, Alkohol in jeder Lebenslage. Selbst die fast verhungerte Geisel braucht vor allem eiskalten Champagner. Aber so richtig voran kommt die Handlung dabei nicht. Anspielungen verlaufen im Wüstensand, auf einen echten Twist, der auf den vielversprechenden Beginn des Romans oder, abgesehen von dem einst abgezweigten Mafia-Geld, gar auf die Handlung von „Die Firma“ verweist, wartet man vergeblich.

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Fast rührend altmodisch kommt einem stattdessen die schon damals vertrackte politische Lage mit so grausam-skurrilen Despoten wie Gaddafi (einer Figur wie von einem Thrillerautor erfunden) vor, in der sich Mitch und seine Kollegen hier gern per Privatjet bewegen. Wie viel komplexer die Welt seither geworden ist! „Die Entführung“ ist eher nicht Grishams bestes Buch, es ist – auch wenn die Figuren dieselben sein mögen – genau genommen auch höchstens die Behauptung einer Fortsetzung von „Die Firma“. Aber es ist ein neuer Grisham, er schnurrt trotz zu vieler loser Enden souverän dahin, man liest ihn so weg. Mit einem Glas eiskalten Champagner jedenfalls geht‘s.