Der neue Anwaltsroman von Bestsellerautor John Grisham, „Anklage“, klärt über üble Machenschaften der Kohleindustrie auf.

Die Welt ist schlecht. Das kann man so pauschal nicht sagen? Aber natürlich nicht! Es gibt Schattierungen. Die Welt ist schlecht, das heißt: manchmal vollkommen verdorben und abgrundtief böse, manchmal ekelerregend gleichgültig und von jeglicher Empathie verlassen, manchmal einfach nur geldgeil und unerträglich zynisch.

Und ganz besonders schlecht, das ist die Welt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Denn hier, in den Vereinigten Staaten von Amerika, „the land of the free“, wie es so trügerisch verheißungsvoll im Text der Hymne heißt, scheinen auch die Möglichkeiten, das Gesetz zu beugen und die Menschen auszubeuten, schier unbegrenzt. John Grisham jedenfalls hat praktisch einen eigenen Wirtschaftszweig auf dieser Schlechtigkeit der Welt begründet, das literarische Begleitprogramm zu Unrecht und Übel.

Den neuen Grisham zu lesen, das heißt für den deutschen Leser immer auch: dem Horror der anderen aus sicherer Entfernung zuzusehen und sich darüber empören zu können. Vieles von dem, was Grisham über die gesellschaftlichen Zustände und das Ausgeliefertsein an den porösen Staat oder – was immer noch viel, viel schlimmer ist – an skrupellose Unternehmen jeglicher Branchencouleur schreibt, liest man als staunender Außenstehender. Diesmal ist es die Kohleindustrie, die er sich vorknöpft, die Konzerne, und das was sie anstellen in und mit einem Teil der USA, über den man sonst wenig erfährt. Die Appalachen, reich an Bodenschätzen, liegen außerhalb jeglichen Fokusses, ihre Bewohner werden gern als „Hillbillies“ verspottet, ihre abgeschiedene Landschaft ist bergig und waldig und schön – eigentlich.

Auch Samantha, die Hauptfigur in „Anklage“, weiß nicht viel über diese eigenwillige und einkommensschwache Gegend, und man kann sagen, es war ihr in ihrem bisherigen Leben auch schnurzegal. Samantha gehört nach Manhattan, ist Anwältin, eine von tausend in „der größten Anwaltskanzlei, die die Welt je gesehen hatte“, und hat – außer, als ihr Vater, ein berühmter Prozessanwalt, wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis musste – noch keinen Gerichtssaal von innen gesehen. Ihr Metier ist die internationale Hochfinanz, Investoren und Fonds, Immobilien, Banken und der eitle Dreiklang aus Arbeit, Cocktails, Geld.

Bis zur Lehman-Pleite, als die Blase platzt und Samantha wie so viele auf die Straße gesetzt wird. Ihre Kündigung allerdings ist eine mit Rückkehroption: Sollte sie sich ein Jahr lang ehrenamtlich in einem von der Firma vorgeschlagenen Projekt bewähren, darf sie ihre Krankenversicherung behalten und vielleicht sogar zurück in das gut bezahlte New Yorker Hamsterrad. So verschlägt es Samantha nach Brady, Virginia, zur „Mountain Law Clinic“, einer Rechtsberatung für Mittellose. Sie lernt das echte Leben kennen, wird mit wirklichen Menschen und realen Problem konfrontiert, die hier meist aus dem skrupellosen Umgang der Kohlemultis mit ihren Arbeitern und/oder der Umwelt resultieren.

Wäre man beim Lesen naturgemäß nicht ohnehin meist stumm, würde es einem regelmäßig die Sprache verschlagen angesichts dessen, was ­Grisham hier schildert. Und was leider nicht nur bei Grisham, sondern auch im wirklichen Bergbau tagtäglich für den Umsatz und zum finanziellen Wohle weniger in Kauf genommen wird. Da werden Feld, Wald und Flur regelrecht rasiert, Berge achselzuckend geköpft, um besonders kostengünstig an die darunter liegenden Kohleflöze zu gelangen, wunderschöne, bis dahin unberührte Landschaften rücksichtslos ausgeschlachtet und verseucht und die dort lebenden Menschen sehenden Auges – also im Grunde: absichtlich – vergiftet. Der Leser lernt, was eine Staublunge ist, und wie das Land beim Tagebau geschändet wird, in der Regel ohne dass die Verursacher zur Rechenschaft gezogen werden. Er lernt, dass die Anwaltshonorare oft um ein Vielfaches höher sind als die Entschädigungszahlungen, die damit abgewendet werden sollen. Grisham war in der Politik, bevor er als Schriftsteller reüssierte, für die demokratische Partei. Und ein entsprechendes Sendungsbewusstsein treibt ihn offenbar noch immer.

Samantha begegnet also dem smarten Prozessanwalt Donovan und seinem ebenso alerten Bruder Jeff, die sich waghalsig mit den Big Playern der Kohleunternehmen anlegen und ähnliche Hasardeure sind wie Samanthas­ Vater: volles Risiko auf Seiten der ­Guten – und der eigenen Eitelkeit. Ihren Vater hat es die Lizenz gekostet, Donovan kostet es das Leben – und ­Samantha, die in Brady doch eigentlich nur eine Praktikantin ist und mit ihrer neuen Rolle als Anwältin der Armen voll ausgelastet, hängt plötzlich tiefer drin, als es ihr lieb ist.

Der Plot ist geradeaus, die Figuren klar, die Sprache schnörkellos. „Anklage“ ist ein echter Grisham-Schmöker: spannend, gut erzählt, glaubhaft und inhaltlich zum Glück weit weg in der US-amerikanischen Provinz. Dort sei er aufgewachsen, dort leben die Menschen, die er kennt, hat John Grisham einmal in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt gesagt. Die Kleinstadt, das Denken dort, das sei seine Herkunft. Im Roman spürt man diese Zuneigung zur Provinz, da schreibt keiner, der sich hochnäsig über die Hillbillies erhebt. Grisham selbst lebt nicht in New York oder im demokratisch geprägten Kalifornien, sondern in Virginia und Mississippi, er spricht mit Südstaatenakzent, er weiß, wovon er schreibt. Kaum verwunderlich, dass es ihn, den früheren Anwalt, literarisch immer wieder in die Welt der Kanzleien zieht, so natürlich auch in „Anklage“. Manche Juristen „erinnern mich an mich selbst, als ich jung war“, hat Grisham einmal gesagt und gestanden: „Ich war auch ein sehr frustrierter Anwalt.“ Mit bekanntem Happy End: 27 Romane, ein Sachbuch, ein Erzählband, vier Jugendbücher, übersetzt in 38 Sprachen.

Übrigens hat Grisham im Abendblatt-Gespräch auch eingeräumt, leider keine Sexszenen schreiben zu können. Anlass war die Veröffentlichung von „Das Gesetz“ und Grisham erzählte, wie seine Frau losprustet, wenn er ihr Manuskripte zu lesen gibt und sie an die pikanten Stellen gelangt. Das war sicher auch ein Stück weit die Koketterie des Bestsellerautors. Aber sagen wir es nach der Lektüre von „Anklage“, in dem Samantha nicht um erotische Ausflüge zu einsamen Berghütten herumkommt, mal so: Seither hat sich da talent­mäßig nicht so irre viel getan.